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Viele Manien mit Kaufrausch. Viele Suizidversuche, weil eine ganze Welt verschwunden ist.

Jede klare und feste zwischenmenschliche Beziehung wirkt beruhigend und entspannend. So Bleuler in meinem alten psychiatrischen Lehrbuch. Mit Großmut, Geduld, Festigkeit und Feingefühl gibt der Arzt dem Menschen in Krise und Not die Möglichkeit, sich an ihn anzulehnen, sich seiner Stärke, seinem Schutze anzuvertrauen, so Bleuler, sinngemäß. Die Wendeopfer, scheint mir, schlagen diese Möglichkeit aus, sie betrachten mich als Okkupator, Invasor, als Bourgeois, sie geben mir die Schuld an ihrer Lage, sinngemäß.

Ich schließe das Therapiezimmer auf und werfe aus den Augenwinkeln einen Blick auf die Fratzen im Gang. Sie blicken zurück. Sie wenden sich ab, sie kichern, bewegte Schatten an der Höhlenwand. Erkenne dich selbst: Im Therapiezimmer sind die Wände in einem hellen Senfgelb gestrichen, keine Bilder. Lenin ist abgehängt, im Keller. Man hat ihn, für alle Fälle, nicht weggeworfen. Uns bleibt die Unähnlichkeit. Bleiche Gesichter starren in die Düsternis im Korridor, wo Patienten auf harten Stühlen warten, daß ihre Therapiestunde beginnt. Sie betrachten die Bildnisse von Fremden und suchen sich darin wiederzufinden, täglich aufs neue.

Zum therapeutischen Gespräch bin ich nicht verspätet, jedoch auch nicht so frühzeitig wie sonst. Ich lege gemeinhin Wert darauf, eine Weile vor dem Patienten im Therapiezimmer einzutreffen, es in Besitz zu nehmen, die Schreibtischutensilien zu ordnen, selbst dann, wenn es in Ordnungsbelangen kaum etwas zu tun gibt. Die Papiere liegen auf Kante, ich suche in den Schubladen nach einem Stift. Meine Stifte verschwinden von diesem Schreibtisch in erschreckender Anzahl, sie verschwinden im Raum des Unbewußten. Die Patienten in ihrer Erregung, in ihrer Unsicherheit neigen dazu, während ihrer Ausführungen nach einem lose daliegenden Stift zu greifen, sich an ihn zu klammern, sich sofort an ihn zu gewöhnen und ihn gegen Ende der Sitzung einzustecken. Ich habe den Patientenstuhl zunächst ein Stück vom Tisch abgerückt, es hat nichts genützt. Der Stuhl wandert wie von Geisterhand im Laufe der Stunde immer näher zu mir heran, ich sitze hinter dem Tisch, der Patient dicht davor, mein Stift ist weg. Mit einem schweren Sessel dasselbe. Eine Couch wäre ein denkbarer Lösungsansatz, aber wir arbeiten nicht mit Couch, wir können keine langwierige Analyse leisten, und eine Analyse ist auch in den meisten unserer Fälle nicht angezeigt, sogar kontraindiziert.

Zu Anfang verschwand mein Füllhalter, nachdem ich ihn während des Gesprächs einmal kurz abgelegt hatte. Ich bin sofort dazu übergegangen, während der Stunden nur die billigsten Werbekugelschreiber zu benutzen. Eisern behalte ich meinen Kuli in der Hand, habe mir aber angewöhnt (Großmut, so Bleuler), einen zweiten als Tröstung oder Köder auszulegen, an dem der Patient sich festhalten kann. Derzeit verwende ich Stifte mit dem Aufdruck eines Urologen-Kongresses, Stifte, bei denen ich nicht weiß, wie ich an sie geraten bin, und die mir wegen ihres Aufdrucks peinlich sind.

Herr P. gibt mir die Hand, zieht sich den Patientenstuhl dicht an den Schreibtisch und steckt den Kugelschreiber in die Brusttasche, ein Aufräumreflex.

Dann spielt er mit seinem Brillenbügel. Er setzt die Brille ab, wenn er nachdenkt, er setzt sie wieder auf, wenn er glaubt, zu einem Ergebnis gekommen zu sein.

Herr P. spricht darüber, wie er nach der Wende seinen Job verlor. Die moderne Wohnung im Plattenbau, die Hellhörigkeit. Das Rauschen der Heizung, der Wasserrohre. Die Nachbarn genau im Bilde, wann er das Bad betrat, was er dort tat. Daß es ihm zu schwergefallen sei, den ganzen Tag über den Eindruck zu erwecken, er sei nicht zu Hause. Wie er Stunden um Stunden reglos in einem Sessel verbrachte, wie er um die Mittagszeit in die Küche schlich, ein trockenes Stück Brot aß (nicht den Kühlschrank öffnen), einen Schluck stilles Wasser aus einer Flasche mit Schraubverschluß trank (keine aufpoppenden Korken, kein Bier, keine spritzenden Erfrischungsgetränke), wie er in eine Plastikschüssel urinierte, die er, um den Schall zu dämpfen, mit Papiertaschentüchern ausgelegt hatte (kein Wasser aufdrehen, keine Flüssigkeiten ins Rohrsystem laufen lassen, nirgendwo). Wie das alles als Dauerzustand nicht haltbar gewesen sei.

An diesem Punkt der Gespräche ist es nicht ratsam, den Patienten darauf hinzuweisen, daß Mitglieder der Nachbarschaft, die imstande wären, von seinem Aufenthalt in den eigenen vier Wänden während des hellen Tages Zeugnis abzulegen, sich ja auch ihrerseits zu Hause aufhalten müßten. Ich kenne Herrn P.s Einwände, sie lauten: Die Nachbarn betreuen kleine Kinder und sind deshalb mit Fug und Recht an ihrem Arbeitsplatz nicht anwesend. Sie arbeiten im Schichtdienst und reagieren tagsüber um so empfindlicher auf Störgeräusche. Sie halten sich, indem sie ihn observieren, durchaus an ihrem angewiesenen Arbeitsplatz auf.

Herr P. trägt ein hellblaues Hemd und darüber eine offene Strickjacke. Er setzt seine Brille auf und dreht am Strickjackenknopf, erwartungsvoll, aber ich nicke nur. Ich sage nichts.

In Stufe zwei habe er morgens zur gewohnten Zeit das Haus mit der Aktentasche verlassen, sei mehrere Stunden mit der U-Bahn gefahren, bis die Stadtbibliothek öffnete. Dort habe er den Tag über gesessen und Bewerbungsschreiben formuliert. Etwas Kaffee aus seiner mitgebrachten Thermoskanne getrunken. Mittags die Stulle aus der Aktentasche zu sich genommen. Circa zweimal die Toilette benutzt.

Mit dem Ablaufdatum seiner Dauerkarte für die öffentlichen Verkehrsbetriebe habe Stufe drei begonnen, er habe das Haus verlassen, sei mehrere Stunden gewandert und es habe mit diesen Wanderungen seine Verwahrlosung eingesetzt.

Die Tatsache, daß ihn einzelne seiner Nachbarn verfolgten, hielt ihn von nun an davon ab, die Bibliothek aufzusuchen. Er wollte keine Angriffsfläche bieten, wanderte im schnellsten Schritt, um sie abzuschütteln, zugleich unter größtmöglicher Vermeidung von auffälliger Hast. Manchmal gelang es ihm, sie zu verwirren, aber wenn er abends nach Hause kam, waren sie in seiner Wohnung gewesen, hatten sie seine Verfolgung und Beschattung von seiner eigenen Wohnung aus dirigiert.

Das Problem: Er habe die verstärkte Abnutzung seines Schuhwerks, die mit den Wanderungen unvermeidlich einhergegangen sei, nicht länger ertragen. Auch habe er die Okkupation seiner Wohnung nicht hinnehmen wollen. So sei er schließlich wieder zu Hause geblieben, habe reglos im Kleiderschrank verharrt und auf ihr Kommen gewartet.

Ich mache mir eine flüchtige Notiz. Tatsächlich ist, dank eines Hinweises aus der Nachbarschaft, am Ende der Psychiatrische Dienst erschienen und hat ihn mitgenommen. Herr P. war erleichtert, er ist geradezu zufrieden gewesen. Er hat sich, denke ich jetzt, in jeder Hinsicht bestätigt gefühlt.

Herr P. klappt die Bügel zusammen und steckt seine Brille ein.

An diesem Punkt der Gespräche ist unsere Therapiestunde um. Morgen werden wir die gleiche Unterhaltung wieder führen. Wir kommen nicht weiter.

Und wenn wir weiterkämen: Draußen ginge es wieder von vorn los. Herr P. wird in diesem Leben keine Anstellung mehr erhalten. Wir können ihm hier nicht helfen.

Das Waschbecken, mein Ort des Zorns. Nach jedem Patientengespräch rasch ein Gang zu den Sanitäranlagen, weil ich an den Händen schwitze. Ich lege die Nasenflügel an, minimiere die Atemtätigkeit, umsonst. Auch der kürzeste Aufenthalt in dieser Kloake mit ihren stinkenden Vorkriegstoiletten kann nur ein masochistischer Akt genannt werden. Immerhin Türen. Da ich unwillkürlich hektisch werde, entfleucht mir das graue Seifenstück ins Becken, unter den keuchhustenden Wasserstrahl, in sein gefächertes unerfreuliches Spritzen. Graues Seifenstück. Seife ist niemals grau, hier schon. Ich fische das alterslose, vertrotzte, das hartnäckig widerstrebende Stück aus dem Spucken und Geifern heraus, ein plasteglattes Produkt, in keiner Weise zum Schäumen zu bringen.