Nichts von: elegischer Vergeblichkeit. Nichts von: wir schwinden dahin wie die Sanftmütige, die Seife. Knochenharte hundertjährige Schloßseife, deren Beharrungsvermögen alles andere in dieser Anstalt übertrifft.
Ich wasche mir pro forma damit die Hände, der Schaumverzicht wird dadurch wettgemacht, daß es sich ohnehin um eine mehr symbolische Geste handelt; ich sehe voraus, daß ich sie im Laufe der Zeit zur bloßen Andeutung verfeinern werde. Wenn der Patient die Tür hinter sich geschlossen hat, kurz ans Fenster getreten, das Gesicht ins Licht gehalten, einmal kurz die Hände gerieben, in Unschuld gebadet, der nächste bitte.
12 Die Ursachen — Fallgeschichten 1
Flüssigstrümpfe
Sie zog nach Einbruch der Dunkelheit, nur mit einem rosa Nachthemd und weißen Schuhen bekleidet, durch die Vorstadt und zündete Container an. Sie versteckte sich in einer Grünanlage, einem Hauseingang und sah zu, wie die Flammen aufstiegen, wie der Müll rauchte, wie das Gehäuse ausbrannte. Niemand kam, um zu löschen, es war spät, und wenn das Feuer in sich zusammensank, war das Geschehen kaum noch zu bemerken. Es roch nach verschmortem Plastik, aber das roch nur, wer sich jetzt in der Nähe aufhielt, draußen. Sie ging aus dem Gebüsch, das sie verborgen hatte, auf den Geruch zu und wühlte in der Asche. Bestrich sich die nackten Beine mit Ruß. Sie wischte über die Unterschenkel, fuhr hoch unters Nachthemd, hielt sich mit Rußfingern die Knie, rieb sich die Asche in die Haut. Dann wieder putzte sie mit einem Fetzen, den sie in der Faust verborgen gehalten hatte, über ihre weißen Schuhe, spuckte auf das Tuch, wienerte, polierte. Die Ascheflocken ließen sich entfernen, aber ein Glutrest hatte Brandflecken ins Oberleder gefressen, die sie nicht wegbekam. Als man sie aufgriff, sah sie schrecklich aus. Schlohweißes Haar, aschgraues Gesicht. Die Beine fast schwarz.
Die Anamnese verlief wenig ergiebig. Es war aus ihr kaum etwas herauszubekommen, sie wirkte verwirrt. Seit gut vierzig Jahren lebte sie in einer Genossenschaftswohnung in diesem Stadtviertel. Niemals war sie aufgefallen. Ihr Haushalt ordentlich geführt. Keine von denen, die ihre Schwerhörigkeit nicht einschätzen können und den Fernseher zu laut stellen, keine von denen, die mit dem Krückstock gegen die Heizungsrohre schlagen, um Hilfe zu fordern, keine von denen, die die eigene Wohnungstür nicht mehr finden und regelmäßig versuchen, durch die Nachbarstür hineinzukommen, als ließe sich ein widerspenstiger Schlüssel durch Geklingel und Geklopfe wieder passend machen.
Monika Kramme war still gewesen, hatte niemanden belästigt, auch jetzt sprach sie kaum. Als sie dann doch ein paar abgerissene Sätze von sich gab, war in der Hauptsache von ihrer Jugend die Rede. Nachkriegszeit. Man hatte nichts. Mäntel aus Militärdecken genäht, Kostüme aus geänderten Uniformteilen, Kleider aus Fallschirmseide. Die Materie noch einmal umgeschichtet, die Materie den Schlachtfeldern wieder entrissen. Was für den Krieg abgezweigt worden war und der Zivilbevölkerung fehlte, kehrte jetzt zurück, wurde dem Zivilisierungsprozeß erneut unterworfen, Scheinkleidung. Wie man Rezepte tauschte für Ersatznahrung, für Eichelkaffee, für Brennesselsuppe, Kartoffelkuchen, so kursierten Ideen für Ersatzbekleidung. Pseudohüte: eine Blechbüchse, mit Tuch und Haar kaschiert. Eine durchgerostete Schüssel mit Zeitungspapier überzogen, mit Wandfarbe bemalt, aus Papier eine Rose geformt. Flüssigstrümpfe: Als die ersten Perlonstrümpfe aufkamen, die sich die meisten Frauen nicht leisten konnten, entwickelte jemand die clevere Geschäftsidee einer Farbe zum Auftragen auf die Haut. Bräunlicher Anstrich für die Beine, der Perlon imitierte. Mit einer Verrenkung nach hinten zeichnete man sich die Naht, selten gelang sie gerade.
Dennoch galten Flüssigstrümpfe, so karnevalesk sie anmuteten, als glückverheißender Gegenstand, mit dem man sich Würde wiedergewann. Auch der Flüssigstrumpf war für Monika Kramme unerschwinglich gewesen. Sie durfte nicht tanzen gehen, man hatte ja nichts, hatte andere Sorgen.
Seither vierzig Jahre verstrichen. Unauffällige Jahre, Jahre, in denen sie nirgendwo Anstoß erregte. Diese Jahre, ausgleichend, milde und ereignislos, besaßen die Funktion eines unbefriedigenden Zwischenzustands. Es gab Vorher. Und jetzt gab es Nachher.
Demiurgenwahn
Es begann damit, daß er berühmte Bauwerke aus abgebrannten Streichhölzern nachkonstruierte. Er baute die Paulskirche, den Fernsehturm am Alexanderplatz, das Rote Rathaus, den Louvre, den Vatikan nach, und seine Frau war nicht unzufrieden damit, daß er einem Hobby nachging, denn ein anspruchsvolles Hobby hielt ihn davon ab, anderen Lastern zu frönen, so wie es ihr die Freundinnen klagten, deren Ehemänner fremdgingen, dem Suff verfielen, der Spielsucht oder der Völlerei. Beim Modellbau ist das wichtigste die Maßstabstreue. Er erfordert außerdem Sorgfalt, Geduld und Hingabe, und er bringt es mit sich, daß der Modellbauer ein gewisses Interesse an historischen, kunstgeschichtlichen und architektonischen Fragestellungen entwickelt, welches ihm oft nicht in die Wiege gelegt worden ist.
Friedhelm Gehrken erarbeitete seine Werke im Keller, und die vollendeten Objekte stellte er im Wohnzimmer neben dem Fernseher auf. Er trat einem Verein bei, in dem er lernte, Wasserflächen mit Hilfe von Spiegeln darzustellen, was ihm bei seinem Projekt Versailles zustatten kam, er tauschte sich mit den Mitgliedern über die besten Klebstoffe aus, und er profitierte von den dort praktizierten Methoden der einfachen Verkleinerung. Seine Frau konnte vor ihren Freundinnen damit auftrumpfen, daß man jetzt an Busreisen teilnahm, um die Originale zu sehen.
So hätte ihr Leben ruhig weiterlaufen können, die Rente reichte aus, das Haus war abbezahlt, die Kinder erwachsen. Doch dann starb überraschend seine Frau an Krebs. Friedhelm Gehrken wollte sich nicht aus der Bahn werfen lassen. Er buchte blind eine Bustour, sie führte ins Sauerland. Als er von dem Wochenende zurückkehrte, konnte er sich an die Bauwerke, die besichtigt worden waren, kaum noch erinnern. Fachwerkhäuser. Kleine Burgen und Schlösser. Im Sauerland gab es gar keine bedeutenden Bauten. Beeindruckt hatte ihn die Tropfsteinhöhle, in die die Gruppe geschlossen hineingegangen war, obwohl zunächst mehrere behauptet hatten, sie litten an Klaustrophobie. Friedhelm Gehrken erwarb am Ausgang zwei Postkarten und baute zu Hause die Höhle im Anschnitt nach, sie ähnelte einer Druse, nur eben aus Streichhölzern. In den Boden hatte er einige Spiegelscherben eingelassen, sie ahmten die Höhlenseen zu seiner vollen Zufriedenheit nach. Was fehlte, war der geheimnisvolle Glanz, den die Scheinwerfer auf das nasse Gestein gezaubert hatten. Nüchtern betrachtet, entsprach das sogar den natürlichen Gegebenheiten, denn Tropfstein wird matt und unansehnlich, sobald er an die Luft kommt. Dennoch setzte Gehrken seinen Ehrgeiz darein, Höhlenklima herzustellen. Glimmerpuder zu benutzen war in seinem Verein verpönt, er sah es ein, der Effekt war zu stark, war kitschig. Versuche mit echtem Wasser lösten den Klebstoff auf. Im Verein empfahl man ihm Klarlack, zur Not auch, etwas unangemessen für Holzarbeiten, eine dünne Klarsichtfolie, mit der er die Höhle auskleiden sollte. Allerdings war man im Verein der Meinung, eine Höhle nachzubauen widerspreche letztlich der Satzung, sie sei kein Gebäude und für Streichholzkonstruktionen demnach ungeeignet.
Er entschied sich für Klarsichtfolie, die er innen an die Wölbung klebte, sie lag dicht an, als wäre es Feuchtigkeit. Er stellte kleine Scheinwerfer auf, die markante Stalaktiten beleuchteten, und wünschte sich zum ersten Mal, selbst in einem der Objekte, die er gebaut hatte, wohnen zu können. In der Tropfsteinhöhle gab es neben dem See eine Mulde, in der er sich schlafen legen würde. Ein Steinblock war annähernd tischförmig. Er käme zurecht. Und er würde das unvergleichliche Geräusch des Tropfens hören — für einen Moment zögerte er, denn er erinnerte sich, daß er Folie benutzt hatte. Aber für das Tropfgeräusch ließen sich Mittel und Wege finden. Es gelang ihm, einen Zimmerspringbrunnen umzubauen und das Wasserplätschern auf ein unregelmäßiges Tropfen zu reduzieren.