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Am Tag nachdem er die Höhle fertiggestellt hatte, versuchte er zu schrumpfen, um sich dort einquartieren zu können. Er kaufte eine kleine Plastikfigur, die ihn vorläufig ersetzte und an seiner Statt in einem winzigen Schlafsack in der Mulde übernachtete. Friedhelm Gehrken schränkte seine Nahrungsaufnahme ein. Er verkürzte durch eine spezielle Faltung sein Bettuch, so daß er sich, während er schlief, sehr klein machen mußte. Schon nach wenigen Tagen gab er das Schrumpfvorhaben auf. Er beschloß, die Höhle zu vergrößern. Er wünschte sich einen Höhlensee mit ausreichender Tiefe, um dort Feenkrebse anzusiedeln. Das Schlafzimmer sollte ihn beherbergen, mit allem Drumherum. Er ging morgens mit dem Hund und machte sich dann an die Arbeit.

Beängstigend bei der großen Version war das Fehlen von geraden Kanten, von harmonischen Proportionen. Es fiel ihm schwer, den richtigen Maßstab einzuhalten. Manchmal kam ihm die Befürchtung, daß ihm das Projekt entglitt. Trotzig berichtete er von seinem Plan im Verein. Die anderen Mitglieder rieten ihm ab. Willst du nicht lieber eine Kontaktanzeige aufgeben, bat man im Verein. Aber er wollte nicht. Er wollte die Höhle. Bei einer größeren Höhle, hieß es dann, benötige er anderes Material, keine Streichhölzer. Keine Streichhölzer — das kam praktisch einem Vereinsausschluß gleich. Er fühlte sich unverstanden und beharrte auf Streichhölzern. Über den Kiosk an der Ecke bestellte er ein größeres Kontingent. Abends zog er durch die Gaststätten und leerte die Aschenbecher. Er rauchte auch selbst wieder mehr. Der Verein unterstützte ihn nicht länger. Prompt nannte er den Verein spießig, rückwärtsgewandt und banal, wahrer Kunst nicht aufgeschlossen. Morgens ging er mit dem Hund, wenn er zurückkam, roch es im ganzen Haus nach Kleber und Zigarettenrauch. Der Zimmerspringbrunnen tropfte. Die Ersatzfigur, die nachts in diesem Tropfen einschlief, war zu beneiden. Eines Morgens fand er sie mit abgerissenem Kopf.

Theorie des Ortes

Der Ort ist für denkende Menschen die reine Provokation. Zwar mag man mittels Landkarten und Wegweisern dem Impuls der Ortsbestimmung nachgeben wollen, zwar mag man sich in seinen Bemühungen dadurch bestätigt fühlen, daß man imstande ist, Treffpunkte zu vereinbaren und sich also in der Raumzeit auf Verabredung hin zu begegnen, dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Ort selbst bloße Relation ist. Der auf der Landkarte markierte Punkt bewegt sich schlingernd durchs Weltall. Er verändert sich im Laufe der Zeit. Und selbst wenn sein jeweiliger Aufenthalt in Bezug zur Sonne berechenbar sein mag, bleibt die Verortung des Ichs an diesem Punkte fragwürdig. Wo bin ich, wenn ich mich an einen anderen Ort (vorzugsweise jenen der Kindheit) erinnere? Wo ist der Ort, an den ich mich zurückziehe, wenn ich schlafe? Der seelische Raum erweitert sich in den Nächten zum Kosmos, während das damit einhergehende persönliche Gefühl suggeriert, das Traumleben fände in einem wie auch immer gearteten Inneren statt, nämlich in mir. Die Eigenschaftslosigkeit und Unbeschreiblichkeit dieses intimsten Ortes enthalten sein utopisches Potential, seine Negationskraft, seine Größe, die darin besteht, Nicht-Ort zu sein: nicht festzulegen, gleichwohl ekstatisch, hypnotisch in seiner Rotation, Hohlraum und Form, bewußt-unbewußt. Der Ort ist immer die Mitte in einem Gewirr von Bezügen. Aber Freud täuscht sich, wenn er glaubt, das Ich könne, bei aller Macht des Un- und Vorbewußten, hier verortet werden. Das Ich im Zentrum der Ortlosigkeit ist so ungewiß wie der Ort Gottes.

Der Tod im Schrank

Olaf Brot wurde tagsüber von einem Pflegedienst betreut. Nach einer mißlungenen Hüftoperation war er nicht mehr gut zu Fuß, es mußte für ihn eingekauft, ein Mittagessen bestellt werden. Im übrigen hatte er sich eine gewisse Selbständigkeit bewahrt, vermochte sich Brote zu streichen, wusch und rasierte sich, er war kein schwerer Pflegefall. Die Auszubildende der Pflegestelle kam einmal täglich für fünf Minuten, riß den Küchenschrank auf und räumte die neuen Lebensmittel ein. Dabei bemerkte sie flüchtig die Damen, die an den Innenseiten der Türen klebten, sorgfältigst im Umriß aus Fernsehzeitschriften ausgeschnitten, leichtest bekleidet, aber nicht nackt. Sie schloß den Schrank verhältnismäßig behutsam, warf die Wohnungstür zu, hatte die Bilder schon wieder vergessen. Im übrigen war die Wohnung der Brots auf das konventionellste eingerichtet. Ein gerahmter Druck über dem Sofa, auf der Fensterbank ein paar Blumen aus Kunststoff, kein Überfluß. Er war verheiratet gewesen, im Schlafzimmer stand noch das Ehebett.

Früh, wenn der Kaffee durchlief, pflegte er den Schrank für eine Weile offen zu lassen und seine Damen zu betrachten. Sie ließen es zurückhaltend geschehen, verhielten sich freundlich. Sie standen ihm zur Verfügung. Eines Morgens jedoch starrten sie zurück. Sie starrten durch das transparente Klebeband hindurch auf ihn, ihr Blick war plastikhaft, sie blickten streng. Nur eine sah ihn nicht an, die Blondine, die ihm den Rücken zukehrte, einen gleißenden Rücken aus sehr heller Haut, die Schulterblätter traten wie Flügelansätze hervor, denn sie stützte, seitlich hingelagert, die Arme auf. Weil die anderen starrten, öffnete er den Schrank von nun an seltener. Aber er öffnete ihn doch. Sobald er sich stark genug fühlte, öffnete er ihn, hielt ihrem Blick stand, bis die häßlichen Plastikaugen erloschen. An einem Abend tat er so, als wolle er ein paar gespülte Tassen in den Hängeschrank räumen. Er klappte die Tür auf, die Damen fixierten ihn von oben herab. Es gelang ihm nicht, sie mit dem eigenen flammenden Blick in die Schranken zu weisen. Da er sie nicht niederzwang, flüchtete er sich zu der Blonden, dem Rücken. Die Blonde saß still, als ginge er sie nichts an. Dann, von unten her, verfaulte sie. Ihr Gesäß verfärbte sich, es wurde dunkler, bläulich und roh. Zitternd stieg die faulige Farbe den Rücken hoch, die Wirbel malten sich ab, das Haar ermattete, hing schlammig herunter. Schließlich drehte sie sich zu ihm um.

Er war in Panik geraten und hatte die Schlauchverlängerung an seinem Wasserkran, mit deren Hilfe er sonst die Teller abspülte, auf die Frauen gerichtet. Das Wasser ganz aufgedreht. Er hatte mehrere Stunden versucht, sie zu löschen, ihren Blick auszulöschen, bis jemand die Tür aufbrach, weil es bei den Nachbarn von der Decke tropfte.

Kreide fressen

Sie war, obschon selbst noch von jugendlicher Ausstrahlung, von ihrem Ehemann wegen einer Jüngeren verlassen worden und wandte sich dem Alkohol zu. Melinda Aberberg trank mäßig an den Abenden, am Wochenende mehr. Der Alkohol beeinträchtigte sie nicht in der Ausübung ihrer beruflichen Pflichten. Sie arbeitete als Lehrerin für Chemie und Biologie, keine großen Korrekturfächer, es gab Eindeutigkeit. Dennoch fielen ihr die Stunden, die sie in der Schule verbrachte, nicht leicht. Ob es am Alkoholkonsum lag und an den damit einhergehenden, wenn auch gut verborgenen Ausfallerscheinungen, ob der Ex-Mann und dessen beleidigendes Verhalten vor der Trennung eine Rolle spielten, ob es ganz andere, wahrere Gründe gab — jedenfalls stand es um ihr Selbstwertgefühl nicht zum besten, stand ihr die gesunde Selbstachtung nur mehr in einer Schwundstufe zur Verfügung. Die Schüler, die bekanntlich jeder Lehrperson unter die Haut sehen können, ließen es an Respekt fehlen. Sie fand nicht heraus, woran es lag. Kaum betrat sie einen Raum, fielen die Schüler über sie her. Lachten hämisch. Zerrissen sich das Maul. Dabei war sie als Pädagogin nicht unfähig. Konnte den Stoff gut vermitteln. Ihren Unterricht hielt sie nicht anbiedernd, aber auch nicht langweilig, letzteres war ja die große Gefahr bei Chemie. Im Gegenteil war sie imstande, Interesse zu wecken, für biologische Vorgänge, für molekulare Strukturen, wer konnte das schon. Sie erschien jeden Morgen gut gekleidet, aber sie provozierte nicht mit Eitelkeit. Melinda Aberberg war einmal gutaussehend gewesen, bevor die Zerrüttung begonnen hatte und ihr Gesicht vor der Zeit altern ließ. Sie empfand ihren Körper nicht als Problem. Und das wichtigste: Sie mochte die Schüler, ohne sich an sie zu klammern, sie verhielt sich zu ihnen fair, sie behandelte sie mit ausreichend distanzierter Freundlichkeit. Dennoch hatte jede Klasse schon nach der ersten Stunde im neuen Schuljahr die Achtung vor ihr verloren. Anfangs war es immer nur einer, der Klassenclown, der Rebell, der in den ersten zehn Minuten testete, wie weit er gehen konnte, dazwischenrief, herumalberte, dann zogen die anderen mit, ziemlich schnell war ein Zustand erreicht, der ernsthaften Unterricht unmöglich machte.