Ich erzähle von der Sonnenwarte aus. Allsehendes Auge des Arztes.
Eine Position der Ferne, des generellen Überblicks. Ich behellige die Dinge mit meiner gleichmäßigen Aufmerksamkeit. Und doch entgeht mir mindestens die Hälfte, die Nachtseite, die Stellen, auf die der Schatten fällt. Das Interessante dabei ist die Hälfte, die im Dunklen bleibt. Die Sonne bescheint nur die Oberfläche. Und was sie sieht, ist nicht unbedingt das Entscheidende. Nicht das, worauf es ankommt. Nicht das, was eine Geschichte vorantreibt: daß sich die Körper vermischen, daß Intimität stattfindet, Auslöschung, Liebe und Haß.
Ein sonnenhafter Erzähler, rundlich gebaut, sonnigen Gemüts, der sich erlaubt, sich gegebenenfalls auch künstlicher Beleuchtung zu bedienen, mit Straßenlaternen zu operieren, Taschenlampen, Scheinwerfern, der Durchleuchtung anstrebt und doch achtgeben muß, daß ihm das Objekt seines Interesses dabei nicht abhanden kommt.
Wer des Nachts in ein Gebüsch leuchtet, scheucht Tiere auf und spielt ihnen Tag vor, er wird sie nie schlafend erwischen. Schatten läßt sich nur ableiten. Schatten ist da, wohin mein Blick nicht fällt. Dennoch weiß ich um ihn, denn das Licht entsteht aus der Finsternis.
I Furor
2 Pompes funèbres
Der schwarze Lack spiegelte stark, warf das Licht zurück und blendete mich. Die Sonne brannte an diesem Morgen wie auf einem Mafiabegräbnis, auf dem Parkplatz schimmerten teure dunkle Wagen wie hohe Wellen, ich setzte meinen roten Opel hinzu und schritt über den Schotterboden zum Friedhofstor, gehemmt, gebremst, mit schweren Beinen wie unter Wasser, mit den Armen ein prekäres Gleichgewicht errudernd, Gang über Meeresgrund.
Odilo war tot.
Ein ähnlicher schwarzer Wagen war über ihm zusammengeschlagen, hatte sich mit ihm eingerollt und ihn mitgerissen in die Nacht, über die Leitplanke, einen Hang hinab. Er war angeschnallt, der Airbag hatte funktioniert, aber ab einem bestimmten Maß der Gewalteinwirkung sind die Sicherheitseinrichtungen im Innern eines Gefährtes nur noch kosmetisch. Er war nüchtern, oder jedenfalls hatte er keinen Alkohol getrunken. Er fuhr schnell, es gab keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf dieser Strecke, die er hätte unzulässigerweise überschreiten können. Es war eine dunkle Nacht, mondlos, Schichtwolken. Er fuhr ohne Licht.
Diese Tatsache hatte mir seine Mutter am Telefon mitgeteilt. Sie berichtete die Fakten, sie wirkte gefaßt.
Jetzt stand sie am Friedhofstor, ihre Augen glitten unstet hinter den dünnen Schleiern, die von ihrem Hut fielen und jeden fremden Blick vor ihrem Gesicht zerstreuten, in oszillierende Muster auflösten, vernichteten.
Sie gab mir die Hand, eine schmale kühle Hand, besteckt mit mehreren klobigen Ringen, ich bemühte mich, sie nur sanft zu drücken.
Frau Leonberger. Es tut mir sehr leid.
Altfried.
Ihre Stimme klang freundlich wie immer, sachlich, wie sie auch am Telefon geklungen hatte, verbindlich, als sei ich tatsächlich ein Freund der Familie und nicht nur eine hartnäckige Laune ihres Sohnes, ein nicht ganz standesgemäßer Kumpel, mit dem er sich von seinem sonstigen Leben zu entspannen pflegte.
Altfried. Noch einmal von ihren Lippen, die in grellem Rot geschminkt waren, Signalrot, wie eine Warnung, in ihre Nähe zu kommen, ein Abstandhalter, der zu ihrem alltäglichen Erscheinungsbild gehörte, an diesem Tag aber leicht hysterisch wirkte, als sei die Lippenfarbe clownesk verschmiert, aber sie war nicht im geringsten verschmiert, vergewisserte ich mich, sie war wie sie sein sollte, wie alles an dieser Frau, sie war exakt.
Altfried. Beschwörend, beruhigend, beschwichtigend.
Ich weiß, daß mein Name tröstet. Ich bin benannt nach dem heiligen Altfried, Bischof von Hildesheim. Altfried, mit langem katholischen Dehnungs-E, das sich absetzt von der nordischen, heidnischen, altdeutsch-germanischen Schreibweise Altfrid, die eine Zeitlang wieder beliebter war, weil sie reckenhafter klang, kämpferischer, während in meinem Namen der Friede das entscheidende Element bildet, etwas harmlos, etwas bieder, aber seltsam tröstlich, was ich oft daran merke, daß meine Patienten dem Klang dieses Namens vertrauen und ihn manchmal mantraartig vor sich hinsprechen, obwohl es mein Vorname ist und wir uns in der Klinik mit den Patienten nicht duzen. Die Patienten sind meist darauf aus, dem Therapeuten nahezukommen, alle Grenzen, die sie überschreiten können, überschreiten sie, und die Kenntnis meines Vornamens, das Aussprechen meines Vornamens, einfach so, sinnierend, wie um ihn sich besser einzuprägen, ist eine Strategie der Machtergreifung, der Selbsterhöhung, ein typisches magisches Ritual.
Frau Eleonore Leonberger hat mich stets beim Vornamen genannt. Ich war zwar schon volljährig, als ich Odilos Bekanntschaft machte, aber in ihren Augen noch ein Kind, etwas unbeholfen, zu dick, aus einfacheren Verhältnissen, was sie meinen Manieren, meiner Kleidung, meiner Ausdrucksweise anmerkte und was mir erst in ihrer Gegenwart zum ersten Mal bewußt geworden war. Mein Vorname aus ihrem Munde war wohl eine noble Geste, eine familiäre Zuvorkommenheit, die mich eingemeinden sollte, dennoch empfand ich es als unpassend, weit mehr als bei meinen Patienten, und in ihrem Fall wäre es mir lieber gewesen, sie hätte Herr Janich zu mir gesagt.
Ihre Lippen verzogen sich jetzt zu einem Lächeln, ihre Augen konnte ich nicht sehen, sie wies mir den Weg zur Kapelle und begrüßte weitere Trauergäste, die mit dünnen Sohlen den Kies zum Knirschen brachten und feinen weißen Staub aufwirbelten.
Mir schien, ich hatte während des gesamten Begräbnisses diesen hellen Staub vor Augen. Steinstaub, von schweren Schritten, vom strengen Wind hochgewirbelt, ich mußte unablässig blinzeln, um nichts in die Augen zu bekommen, und doch oder gerade deswegen tränten sie, ich sah alles verschwommen, dabei hatte ich mir vorgenommen, mich zu konfrontieren, mir den Tod genau anzusehen.
Ein Märzmorgen, der warm zu werden versprach, die Sonne stach schon, stach um so mehr, als noch kein grünes Blatt vorhanden war, sie abzuschirmen. Den Weg zur Kapelle säumte eine Rotdornallee. Die Knospen schwollen, in der Luft hingen bereits Blütendüfte, auch wenn man keine Blüten sah, auf dem Kiesweg zeichneten sich die scharfen Schatten kahler Äste ab, harkten wippend, wenn ein Windstoß kam.
Von den Gräbern war die Winterdekoration bereits entfernt worden, in den Behältern für Pflanzenabfälle häuften sich Fichtenzweige und lädierte Gestecke mit hartem weißen Islandmoos, aus denen rote Schleifen hervorblinkten. Auf den frisch geharkten Gevierten stachen Primeln ins Auge, fast schmerzte es, diese Frühblüher zu sehen in ihren Plakatfarben, feuerrot, dottergelb, passionsviolett, die unbeweglich blanken Tulpen in flaschengrünen Steckvasen, die künstlich anmutenden Narzissenbündel, in denen an Holzstäbchen bunte Plastikeier steckten.
Im älteren Teil des Friedhofs war aus den Grabfeldern ein Wald gewachsen. Verwitterte Steintafeln hingen schief im Boden und drohten umzustürzen, wurden von abgebrochenen, bemoosten Ästen in ihrer Schieflage gehalten, an rostigen Gittern bröckelten die stilisierten Lilien, die eisernen Mohnkapseln, die Ranken und Rosenblüten unter dem feinen Flechtenschimmer, der aufgeklebt aussah, wie der Rasenstaub einer Modelleisenbahn. Auf dem Waldboden der Hauch von ungezählten Sibirischen Blausternen, ein himmlisches Blau, das einlud, dort zu lagern, sich mit einer Picknickdecke hinzubetten, das mich, bevor ich die Kapelle betrat, für einen Moment erfreute.
Die klamme Kühle saugte mich ein, der Geruch brennender Kerzen, die schwüle Süße der Lilienblüten. Vor dem Sarg bordeten die Blumenkränze über, in vornehmem Weiß gehalten, als habe man sich abgesprochen. In den Bänken saßen einzelne Trauergäste, die noch ein Gebinde auf dem Schoß hielten, es in raschelndem Blumenpapier verborgen hielten, auf den passenden Zeitpunkt der Übergabe wartend, sich mit beiden Händen am leichten Knitterpapier, seiner Luftigkeit festhaltend.