Nach dem dritten Klingeln hörte ich durch die papierdünne Tür, wie meine Schwester ein Kleidungsstück vom Bügel zerrte. Ich kannte ihre Gewohnheiten, sie zog sich mehrmals am Tag um, ich konnte mir ausrechnen, daß es nicht mehr lange dauern würde; trotzdem war ich schon leicht ungehalten, als sie mir die Tür öffnete, mir einen Kuß gab, als ich meiner Schwester nicht ohne Grazie den Jutesack überreichte.
Mila entnahm prüfend eine Frucht und legte sie auf der Öffnung ihrer einzigen, schnörkellosen, feingestreiften Blumenvase ab.
Sie trug ein selbstgeschneidertes Reformkleid, eine Mischung aus Kutte und Kittel, sie kultivierte damit ein mir unverständliches, anachronistisches Freiheitsgefühl. Ein Teil des Freiheitsgefühls beruhte darauf, daß sie für diese Bekleidung kein Geld ausgab.
Meine Schwester hatte es sich zur Aufgabe gemacht, alle Kleider aus dem Familienbesitz an sich zu nehmen, die niemand mehr haben wollte. Seit Jahren trug sie die alten Kleider von Tante Sidonia auf. Manches änderte sie sich, wenn es ihr zu formlos erschien. Dort, wo der wogende Busen unserer Tante sack- und beulenartige Oberteile erfordert hatte, nähte sie Biesen ein. Aus einigen Gewändern, die bis übers Knie reichten, schneiderte sie Minikleider, oder sie verlängerte einen Rock mit Volants bis zum Boden. Sie setzte Partien ganz anderer, edlerer Materialien ein, die den in Beige gehaltenen Synthetikstoffen ihre Rentnerhaftigkeit nahmen. Und umgekehrt sorgten, so ihre Theorie, die Tantenkleider für eine Umwertung der Werte und machten pathetische Stoffe überhaupt wieder tragbar; Kleider, die bis dahin aussahen wie Wolldecken oder Tischdecken, nahmen dem Brokat das Fürstliche, dem Samt die Schwere, dem Taft seinen übertriebenen Glanz. In einer Gruppe Gleichaltriger war sie von unauffälliger Auffälligkeit, gekleidet nach der Mode eines verflossenen Jahrhunderts, halb russische Gräfin, halb Trümmerfrau.
In den Entwürfen für ihre Kollektion zeichneten sich ähnliche Verfahren ab. Mila hatte dafür Preise bekommen. Sie nannte sich Modeschöpferin.
Ich zog den Schlafanzug unter meinem Arm hervor und drapierte ihn über einem Stuhl. Dann setzte ich mich, die harten Knöpfe im Rücken.
Auf ihrer Fensterbank standen Gläser mit Brokkoliköpfen, die sie wie einen Schnittblumenstrauß zum Blühen gebracht hatte. Ich versenkte mich andächtig in die kleinen gelben Blüten. Sie spiegelten sich in der dunklen Fensterscheibe und vermischten sich mit den Lichtern der Stadt.
Meine Schwester legte mir die Hand in den Nacken, zwang mich, mich ein wenig vorzubeugen, und zerrte den Schlafanzug wieder von der Lehne.
Erst die Arbeit.
Sie führte mich in ihr Nähzimmer und plazierte mich neben dem Zuschneidetisch.
Sie zerschnitt das mürbe Gummiband. Zog ein neues ein, ließ es lose hängen, an einer Seite baumelte der Pappträger, und ich mußte in die Schlafanzughose steigen, damit Mila die richtige Länge abmessen konnte. Ihre schmalen, abgekauten Nägel fingerten vor meinem Bauch und berührten mein Unterhemd. Sie hielt die Enden probeweise über Kreuz — Stramm genug? — , und ich schämte mich ein wenig meiner Würstchenhaftigkeit. Sie zupfte Stecknadeln vom Kissen an ihrem Handgelenk und markierte das Maß, sie schnitt das Gummiband ab, und das Ratschen der alten Schere schmerzte.
Ich schlüpfte aus der schlackernden Haut. Ein Luftzug traf kalt meine Beine. Sie ging mit dem Hosenstoff zur Nähmaschine.
Ich stand noch einen Moment vor dem Ganzkörperspiegel, umringt von Hutschachteln und Schuhkartons, in denen meine Schwester Stoffreste, Garne und Reißverschlüsse aufbewahrte, sah mir etwas hilflos beim Stehen zu. In meinem Rücken richtete die Schneiderpuppe, geschmückt mit einer Federboa, den blinden Blick auf mich. An die Wand hatte Mila ein Schnittmuster gepinnt, die Karte eines geheimnisvollen Landes, auf der sich rote und schwarze Linien umeinanderschlangen, auf der sich Gestricheltes und Gepunktetes kreuzte. Ich konzentrierte mich auf die morsende kurz-kurz-lang-Linie, wollte ihre Bögen verfolgen, bis das Papier raschelte und einen Ärmel ausspuckte, sich das Vorderteil eines Kleides aus der Perforation herauslöste.
Ich war im Begriff, wieder in meine Hose zu steigen, als sich das rote Haar an meinen Schenkeln aufstellte. Milas Katze stürzte herein, sie war aufgebracht. Ich hatte vorausschauend zwei Stunden zuvor eine Katzenallergietablette eingenommen, die Anwesenheit des Tieres durfte mein Befinden daher keinesfalls beeinträchtigen. Ganz im Gegenteil schien aber mein Besuch die Katze zu stören, sie sprang auf mich zu, bremste dann ab, kam mit steifen Schritten näher, machte einen Buckel und sträubte ihre Haarpracht, so daß ihr kleiner Körper doppelte Größe erreichte. Sie baute sich vor mir auf und ließ ein dumpfes Knurren hören, lauter, als ich es angemessen fand, zumal die Katze mich seit ihrer Kindheit kannte. Sicher stand es mit unserem Verhältnis nicht zum Besten. Aufgrund meiner Allergie hatte ich das Tier gemieden, während die Katze ihrerseits stets Gefallen daran fand, mir klagend um die Beine zu streichen. Dennoch hatte ich mir heute nichts vorzuwerfen. Ich mutmaßte, daß mein Erscheinungsbild sie provozierte.
Ich stand in Unterhosen, die Katze jedoch ging voll bekleidet. Sie trug ein dunkelblaues Zorro-Cape.
Die Katze war daran gewöhnt, daß sie zu bestimmten Anlässen angezogen wurde. Ihre Vorgängerin hatte ich im Verlauf unserer Kindheit regelmäßig in Puppenkleidern und Karnevalskostümen gesehen. In abgemilderter Form setzte Mila diese Verkleidungsaktionen mit dem Folgetier fort. Sie probierte Stoffe, die sie zu verarbeiten plante, zunächst an der Katze aus. Etwas konsterniert, war diese zunächst immer versucht, den Stoff abzuschütteln, sie kratzte sich ausgiebig, vergaß dann die Sache. Manchmal spielte sie mit einem Flattergewand wie junge Kätzchen mit ihrem Schwanz. Test auf Reißfestigkeit, nannte Mila das, Bewegungsstudie, nannte sie es, sie wollte sehen, wie ein Stoff fiel, wie er anlag, wie er Falten warf, wenn der Körper in Aktion trat.
Jetzt knurrte die Katze, zerrte am Cape, knurrte mich an und versuchte den Umhang abzuzerren, sie schlug Krallen und Zähne hinein, strangulierte sich dabei, ließ es wieder bleiben.
Meine Schwester bügelte meine Schlafanzughose. Ihre Katze wälzte sich auf dem Boden, giftsprühend, Krallen zeigend, Mähne schüttelnd.
Im Grunde hatte ich mich vor diesem Tag gefürchtet. Ich hatte befürchtet, daß meine Schwester sich in einer Aufwallung von Schmerz das Haar ausreißen, sich verzweifelt die Kleider vom Leib fetzen könnte. Aber nur die Katze regte sich auf, sie wandelte wütend in ihrem Erdenkleid und fletschte die Zähne. Ich sei schuld, sagte mir die Katze, ich sei an allem schuld.
Man sagt, daß Tiere die Gefühle ihrer Halter übernehmen können, daß beispielsweise ein Hund, als Waffe verwendet, den Zorn seines Herrchens agiert, oder daß ein Kaninchen, apathisch und abgemagert, den unterdrückten Kummer seines Besitzers in Handlung umsetzt.
Beruhige dich, Rächercat, sagte ich streng zu der Katze, die in die Durchreiche sprang und sich dort auf die Lauer legte.
Mila rieb mit der Küchenreibe hauchdünne Streifen Pomeranzenschale ab. Das fleischlose Fleisch trat weiß unter der äußeren Haut hervor wie eine Polsterfüllung. Mila dekorierte mit den Zesten die Sahnehaube auf unseren Cappuccinos.
Die Katze fauchte, als ich mich an den Klapptisch in der Küche setzte. Sie lag sphingenhaft in der Wand zum Wohnzimmer, ihre vergißmeinnichtblauen Augen registrierten jeden Schluck, den ich nahm. Der Umhang hatte sich gelockert, er fiel ihr seitlich über die Flanke und gab das verhaltene Muskelspiel als Lichtspiel wieder. Der Stoff besaß, soviel konnte auch ich erkennen, einen guten Bewegungskoeffizienten, reichen Faltenwurf.