Ich zupfte an der Schleife, nahm der Katze das Cape ab.
Habe ich mich zu wenig um ihn gekümmert?
Du mischst dich zu sehr ein, sagte meine Schwester böse.
Mila schob mir eine Ansichtskarte über den Tisch, Motiv Blumentrost. Wir müßten, verlangte sie, unserer Tante zum Geburtstag gratulieren. Sie habe die Karte besorgt, ich solle den Text verfassen, sie würde unterzeichnen. Ich lehnte es ab zu schreiben und führte meine unleserliche Arzthandschrift ins Feld, erklärte mich aber bereit, ihr den Text zu diktieren.
Bevor ich diktierte, machte ich ihr Vorwürfe. Daß sie mich nie in meiner Abgeschiedenheit besuche. Daß ich an ihrem Leben keinen Anteil hätte und sie an meinem Leben keinen Anteil nähme. Daß sie an Tante Sidonia denke, niemals an mich.
Mila biß in die bereits zerkaute Filzstiftkappe, und als sie dann schrieb, kalligraphierte sie nicht wie gewöhnlich, sondern erschreckte mich durch eine fahrige, eckige, unausgeglichene Schrift, die ich in einem Gutachten als besorgniserregend bewertet hätte.
Sie räumte ihre Tasse weg und begann, die Pomeranzen abzuwaschen.
Meine Schwester kochte, wenn es ihr schlechtging, Marmelade ein. Ich saß gerne dabei, sah zu, wie Zucker in warme Flüssigkeit rieselte, die Lösung aufkochte, eindickte, Blasen warf. Mila hatte die Arbeitswut unseres Vaters geerbt, sie kam nie zur Ruhe, während ich meinesteils Sitzen und Zuhören getrost als Arbeit bezeichnen konnte. Mila kochte nicht gern, im Grunde haßte sie es. Jetzt schüttete sie die Pomeranzen in die Spüle, ließ sie nachlässig aufprallen, und es machte nicht den Eindruck, als habe sie vor, heute noch Schalen in feine Streifen zu schneiden, Fruchtfleisch zu filetieren, Saft auszupressen.
Odilo habe sich geweigert, ihre Wohnung zu betreten, er habe sich geweigert, auf Lenin zu blicken. Später habe er sich geweigert, auf den abgebauten Lenin, die Leninlücke zu blicken. Er hörte die Waschmaschine des Nachbarn, hörte Türen im Treppenhaus schlagen, er hatte sich ein einziges Mal, und auch da nur eine gute Stunde, in der Wohnung aufgehalten und war dann mit ihr in ein Restaurant gefahren. Wenn er in Berlin war, trafen sie sich in ihrem Atelier.
Ich stellte mich zu ihr, klemmte den Rand meines großkarierten Taschentuchs in den Hosenbund, schnitt ein paar Früchte auf und preßte jedem von uns ein Glas Pomeranzensaft aus.
Ich teilte meiner Schwester mit, daß ich auf sie wütend sei. Ich teilte ihr mit, daß ich mich hintergangen fühlte. Ich erklärte, daß mich ihr Verhalten zu bohrendem Grübeln, absurden Mutmaßungen und grundlosem Schuldgefühl treibe. Ich teilte ihr all dies mit, indem ich das Messer laut aufprallen ließ, indem ich mit unnötig hohem Kraftaufwand preßte, ich steigerte mich in einen gewissen Furor hinein, aber meine Schwester reagierte nicht darauf. Ich stellte ihr mit besonderem Nachdruck ein Glas hin. Die Säure zog mir den Hals zusammen. Mila weigerte sich zu trinken.
Sie hantierte lustlos mit dem Obst, sortierte die Früchte, legte die verschrumpelten zur Seite, baute sie zu Pyramiden auf.
Ich wurde hektisch. Sie machte mich mit ihrer Verbissenheit nervös, ihre Überaktivität sprang auf mich über, beinah hätte ich mich am Messer verletzt. Ich schlenderte mit meinem Glas nach nebenan, unterhielt mich durch die Durchreiche mit ihr.
Ich stellte gewissenhaft Fragen zu A und O, Anfang und Ende, die meine Schwester unbeantwortet ließ. Sie redete vor sich hin, ausweichend, irreführend. Kritisierte, daß er wenig Zeit für sie gehabt hatte. Die Arbeit sei ihm wichtiger gewesen. Arbeit, fand sie, werde vorgeschützt, um Kontakt zu vermeiden.
Die Katze störte. Mir schien, daß ich nur die Hälfte mitbekam, weil mir die Katze in der Durchreiche die Sicht versperrte. Ich griff einen Farbstift vom Tisch, rollte ihn in die Zimmerecke, und die Katze sprang von ihrem Podest und fing ihn ein, legte sich mit ihm auf den Rücken, biß in die Kappe und zerkratzte ihn mit allen vier Pfoten zugleich.
Eifersucht, sagte meine Schwester, Zufälle, sagte sie, planlos, sagte sie, instabil. Er habe niemals von mir gesprochen, behauptete sie, wie er ohnehin nicht geschwätzig gewesen sei; allerdings unberechenbar, so daß sie sich auf eine Verabredung niemals habe verlassen können; allerdings von einer eskalierenden Überempfindlichkeit, so daß er Kontakte mehr und mehr mied; allerdings mit einem Ignoranzpotential begabt, dem sie nichts entgegenzusetzen gewußt habe als eine immer mechanischere Innigkeit.
Dann sah ich durch den Rahmen der Durchreiche zu, wie Mila eine Frucht vielfach anritzte und Kaffeebohnen in die Schnitte steckte, rundherum Kaffeebohnen, dazu eine einzige Gewürznelke. Die Hand mit der Pomeranze senkte sich in ein Einmachglas, Schnaps strömte von oben ein, die Hand indes zog sich zurück, verschloß den Deckel. Die gespickte Kugel drehte sich ehrfurchtgebietend in der Flüssigkeit, führte embryonale Bewegungen aus, bis sie die richtige Position erreicht, die Schwere nach unten gerichtet hatte. Mehrere Monate mußte die Orange so schweben oder schwimmen, mehrere Monate durfte man sie betrachten und verehren, dann konnte man den Likör abseihen und in Flaschen füllen.
Gemeinsames Theoretisieren: Er habe seinem verstorbenen Vater näherkommen wollen; er habe sich von uns, die wir in den Osten gezogen sind, verlassen gefühlt; er habe eine kapitalistische, also unerfüllbare Sehnsucht gepflegt; seine Utopie sei mit der Wende kollabiert; er habe dem Druck nicht mehr standgehalten; er habe das Gefühl gehabt, seine Mutter zu betrügen; seine Begabung am Lauf der Welt scheitern sehen.
An den Wohnzimmerwänden hingen Zeichnungen von Formsteinen aus Beton. Es war derselbe Sichtbeton, der auch draußen den Wohnblock schmückte. Wenn ich zu Mila ging, kam ich auf dem Weg vom Parkplatz an einer freistehenden Wand aus diesen plastisch-dekorativen Struktursteinen vorbei, ein stilisiertes Wellenornament, das, unterschiedlich zusammengesetzt, wirbelnde Räder oder futuristische Wolkenhimmel ergab. Mila hatte sich auf die eine Grundform beschränkt und verschiedene Anordnungen ausprobiert, hatte alle Elemente gleich ausgerichtet, Serien mit der gelegentlichen Abweichung einer halben Drehung konstruiert, auch völlige Willkür walten lassen und wild kombiniert, wenngleich unter Beibehaltung der Lückenlosigkeit.
Sie war fasziniert von der Kunst am Bau, speziell von den Wand- und Giebelelementen und den durchbrochenen Verbindungsschürzen. Sie interessierte sich dafür, mit welchen Mitteln ein billiger Baukörper kostengünstig verhüllt worden war.
Auf ihrem Arbeitstisch lagen einige eigene Entwürfe ausgebreitet. Sie zeichnete ihre Modelle in die Länge gezogen, elegant, gotisch. Sie ähnelten ihr in Figur und Habitus und waren in teils strenge, teils mächtig sich aufstauende Kostüme gehüllt. Die humanoiden Gestalten trugen die Köpfe von Blaumeisen, Mardern und Hirschkühen. Seit meine Schwester im Kindergarten unsere Familie mit Tiergesichtern gezeichnet hatte, pflegte sie die Ikonographie der Heraldik, der Evangelistendarstellung (geflügelte Löwen, Stiere und Adler), des Comicstrip. Ich erinnerte mich an eine Serie aus ihrer Studienzeit, auf der ein gutgekleideter Geier mit einer vornehm zurechtgemachten Perserkatze kämpfte. Hier und da schaltete sich ein Braunbär ein, trat ein Wiesel vor. Mehrere Mischwesen hatten zwei Köpfe. Man erkannte einige Kung-Fu-Stellungen, einige herrisch aus den Stoffbahnen vorgereckte Handkanten; die Körper blieben sorgsam von flatternden Falten umhüllt.
Immer traten ihre Modelle animalisch auf, auf Modenschauen ließ sie sie Masken umbinden, was für spektakuläre Effekte sorgte. Sie wollte die Kraft betonen, die ein von ihr kreiertes Kleidungsstück ausstrahlte. Ich persönlich war der Meinung, die Köpfe lenkten vom Kleidungsstück ab. Aber die Öffentlichkeit schien diese Meinung nicht zu teilen, und der Erfolg gab ihr recht.