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Jetzt lag eine Reihe von Skizzen vor mir, auf denen ein zunächst nur mit wenigen Strichen angedeutetes Modell einer Anreicherung und Verwandlung unterlag. Es wurde körperlicher, ihm wurde Stoff angetan, weite Ärmel hingen bei dieser Kollektion flügelhaft von den Schultern herab, hierfür würde man viel Material verbrauchen, während die Taille schmal blieb, hoch, breit gegürtet. Lockere Striche überlagerten sich, wurden wolkig und dichter, ließen ein weites Gewand entstehen, aus dem ein Kopf ragte, der immer schwanenhafter wurde, eine zum S gebogene Linie erst, dann ein Singschwan, dann ein Höckerschwan.

Meine Schwester hatte diese Zeichnungen mit Spruchbändern versehen, die den Modellkleidern jeweils ein Motto gaben. Dominium generosa recusat — Die Stolze verweigert sich dem Herrn. Fluctuat nec mergitur — Sie mag schwanken, aber sie geht nicht unter. Cor ad cor loquitur — Das Herz spricht zum Herzen. Omnia vincit Amor — Alles besiegt die Liebe.

Ich hatte immer vermieden, aus solchen Darstellungen meine Schlüsse zu ziehen. Ich hatte immer vermieden, meine Schwester zu analysieren. Jetzt aber sah ich mich praktisch gezwungen, diese Modezeichnungen als Psychotest zu betrachten.

Beim Tierzeichnungstest handelt es sich um ein projektives Verfahren, dessen Ergebnisse in höchstem Maße zweifelhaft sind. Die Zeichnungen sind nicht objektiv, sie sind nicht vergleichbar, und eine Deutung ist nicht zuverlässig. Aber sie besitzen einen tiefenpsychologischen Charme, der allen anderen Testverfahren mangelt, sie regen die Phantasie an, führen zu größerer Einfühlung in den Probanden und, größter Kunstfehler, sie verfestigen vage Vorstellungen zur Realität schwarz auf weiß.

Unser Leben besteht aus Gerüchten, die wir über uns selbst erzählen, aus Andeutungen und Berichten anderer, aus Versuchen, die vielen Möglichkeiten, die wir für uns vorgesehen haben, wenigstens das eine Mal in eine unhintergehbare Handlung zu verwandeln. Wir hören ein ständiges Raunen, ein Einflüstern, das uns trösten möchte, uns Vorgänge vorspiegelt, uns glauben macht, es gäbe die Vergangenheit und die Zukunft, ein unaufhörliches Flüstern, das sagt, wer wir sind.

Auf der Rückfahrt steht der Sack neben mir auf dem Beifahrersitz. Mila wollte ihn nicht.

Meine Schwester hat die Pomeranzen gewaschen, abgetrocknet und mir wieder mitgegeben. Ich schleppe den Sack über den Hof, ich schleiche ins Gartenhaus, schütte die Früchte um die Kübel der Zitrusbäumchen, und als ich die Tür schließe und verschwinde, herrscht Nacht.

III Memoria

16 Gewittertiere

Wo der Blick nicht hindringt, füllt sich das Dunkel mit Vorstellungen. Nachts erinnere ich mich an Anfänge. Die Bilder kommen, sobald es dunkel wird und ich mich anschicke zu schlafen. Es ist wie ein Zwang. Sie bedrängen mich, halten mich wach. Ich erinnere mich an Odilos Zeit mit meiner Schwester, und was mich erstaunt, ist das Gefühl der Evidenz.

Mila und Odilo: Ich sehe sie vor mir, als wäre ich dabeigewesen. Was, frage ich mich nachts in meiner Funktion als Seelenkundler, suche ich damit zu bezwecken? Sind es Maßnahmen, den Zeitverlauf zurückzudrehen, indem ich versuche, meinen Freund heraufzubeschwören, ihn in meine Gegenwart zurückzuholen? Möchte ich eine Verbindung herstellen, eine Verbundenheit bekräftigen, mich an seine Stelle begeben? Ich war nicht dabei, ich kann und darf mich nicht erinnern, aber ich, der ausgeschlossene Dritte, erinnere mich doch. Tertium non datur? Ich erinnere mich an alles ganz genau. Aus Trotz.

Ein neu renovierter Badeort an der deutschen Ostseeküste. Blendende, unter dem frischen Anstrich nahezu unsichtbare Bäderarchitektur. An der Farbwand schnörkelten Balkone, rankten Türmchen. Anfang Juli, Azorenhoch.

Lange windstille Tage. Eine steile Strahlenpyramide stülpte sich über Strandgras und Schenkel, bleichte und rötete, bräunte und schwärzte, brannte sich ein. Einzelne Haufenwolken schickten Schattenfelder nach unten, die sich rasch, wie flüchtende Riesenschafe, über die überbordenden Bäuche bewegten und sekundenweise Kühlung brachten. Die Welt waberte unter der strengen Sonne. Es gab zu viel zu sehen. Man sah es nie ganz. Figuren auf Bauchhöhe durchgeschnitten und, Kopf nach oben, auf die Spiegelfläche gesetzt. Die andere Hälfte, die mit den Beinen, stak dort, wo die Jugend Kopfsprung übte, am Ende der Mole. Sand voller Flitter. Städte hatten einige Viertel verloren, neue bekommen. Ganze Ortschaften waren übertüncht, die Dächer neu eingedeckt. Der ehemalige Grenzstreifen belebte sich, Wildtiere querten ihn, wanderten ihn entlang, grüner Korridor.

Fromme Badende aus Polen schraken vor der ostdeutschen Freikörperkultur zurück. Sie vollführten turnerische Verrenkungen, um beim Umziehen am Strand stets ein Handtuch so in Position zu halten, daß es ihre Blöße bedeckte. Sie vermieden es überhaupt, sich unter freiem Himmel umzuziehen, lieber blieben sie in nasser Badekleidung hinter ihrem Windschutz. Die polnischen Familien schienen zartere, langbeinigere Kinder zu bekommen, die Eltern hingegen nach der ersten oder zweiten Geburt schneller zu verfetten und die Form zu verlieren. In der Pubertät trafen die Extreme aufeinander, die halbwüchsigen, gazellenhaften Mädchen trugen enorme, wie kaum noch zum übrigen Körper gehörige Brüste vor sich her; vielleicht war es besser, daß sie alle bekleidet blieben.

Stammgäste aus dem Osten Deutschlands, die regelmäßig diesen Strand besucht hatten, ärgerten sich über den plötzlichen Andrang von auswärts, darüber, daß es nicht mehr ihr Strand war. Sie ärgerten sich über die ausbrechende Schamhaftigkeit, die das, was bis dahin als natürlich gegolten hatte, in etwas Anrüchiges, ja Obszönes verwandelte. Als alle nackt gewesen waren, hatte es keine Probleme gegeben, aber seit hochgeschlossene Katholiken anzügliche Blicke aus den Augenwinkeln warfen, seitdem sie Grad und Anlaß ihrer Erschütterung regelmäßig überprüften, indem sie empört durch die Lücken im Windschutz spähten, seither fühlte man sich von Voyeuren umgeben und konnte ein leichtes Unwohlsein kaum noch leugnen.

Die Urlauber aus dem Westen zeigten sich verunsichert, wie sie sich zwischen diesen Fronten einzuordnen hatten. Anziehen oder ausziehen? Nahtlose Bräune oder doch eine Kontrollfläche, an der sich vergleichen ließ, wie prächtig die übrige Haut gedunkelt war? Meist fanden sie zu einem Kompromiß, der in diesem Umfeld eine ausreichende Lockerheit demonstrierte und zugleich von den heimischen Gewohnheiten nicht abwich. Sie wechselten die Kleider ohne großes Handtuchtheater, sie ließen für ein paar Sekunden ihren Körper frei, trennten sich von den nassen Badesachen so selbstverständlich wie ein Tier im Fellwechsel, zogen ebenso selbstverständlich etwas Trockenes über. Niemand war genötigt, irritierende Organe zu betrachten. Für den einen Moment konnten andere die Augen niederschlagen, sich abwenden, es war keine Zumutung. Wer aber sehen wollte, was zu sehen war — bitteschön, man hatte nichts zu verbergen, man fühlte sich von fremden Blicken nicht belästigt, es ging schließlich zu schnell vorbei.

Die Touristen am Strand spielten Sex. Schaufelten sich heißen Sand auf die Knie, suchten Bernstein und verloren sich in den Schlieren der golden gestauchten Zeit, hoben kalkige Muschelschalen auf und fuhren mit dem Zeigefinger sacht über die rosigen Innenseiten. Sie sammelten glänzende Steine ein, die nach dem Trocknen sofort stumpf wurden, fahle Erinnerungen an Steine. Sie ließen Wasser durch die Finger gleiten, Tang. Sie saßen, nasse Sande in Händen, am Wellensaum und ließen sich überspülen, wieder und wieder.

Meine Schwester und ihr Liebhaber waren noch nicht im Wasser gewesen. Odilo, zum Kongreß angereist, hatte keine Zeit gefunden, auch keine Lust verspürt, zu schwimmen. Er blieb zugeknöpft, blieb vollständig bekleidet, und er blieb dabei, auch seine neue Beziehung auf hochgeschlossene Weise zu führen, selbst wenn ihn während langweiliger Reden, in flittrigen Sekunden ein gutgelaunter Sportsgeist animieren mochte, sich in seine Badehose zu werfen, weit hinaus zu kraulen, einen athletischen Oberkörper vorzuführen, den man im Alltag nicht zur Kenntnis nahm. Er hätte gar nichts dagegen gehabt, einem griechisch interpretierten Körperkult zu huldigen. Allein: Ihn machten die vielen Leute ungeduldig.