Mila traf am Vormittag aus Berlin ein, ein kurzes Wochenende, vergleichsweise unaufwendig, er war in der Nähe, sie hörte seinen Vortrag, er lud sie ein, über Nacht zu bleiben, damit es sich lohnte für sie, die so gern am Meer war. Sie hatte lange gezögert. Der Vortrag interessierte sie nicht. Das Verhältnis zu Odilo war ungeklärt.
Mila hatte ihm zugehört; sie war nach draußen gegangen, als der nächste Redner das Podium betrat.
Die Schwäne senkten ihre angeschmutzten Hälse in den Teich auf dem Institutsgelände. Sie gründelten, paddelten ziellos, dann wieder putzten sie ihr gleißendes Gefieder, es warf das steile Mittagslicht zurück. Sie fetteten die Federn eine nach der andern ein, trugen einen wachsähnlichen Stoff auf, an dem das Wasser abperlte. Am Hals blieb ein Grauschleier, fehlte die Glätte.
Die Hitze umschloß sie wie ein Gummikleid, hinderte ausgreifende Bewegungen, hielt den Körper in Schach. Zwangsjackenmittag: Mila ging sehr langsam am Institut entlang, am Rand von erhitztem Getreide, mit kleinen, schleppenden Schritten entlang der überhängenden Ähren, Grannen streiften ihre bloßen Unterschenkel, hafteten mit winzigen Widerhaken für eine Sekunde an der Haut. Die in der Sommerhitze heller werdenden Felder. Felder durchsetzt mit Kornblumen, blond und himmelblau. Bleiche Blütenbäder, überbelichtete Tage, die, während sie noch stattfanden, bereits zu Erinnerungen wurden. Als sähen sie miteinander ein altes Album mit den Sommerfrischefotos anderer, längst verblichener Personen an, Menschen in Badekostümen der Jahrhundertwende, Menschen mit langen Gewändern, die sich unter Schirmen aufhielten, Fotos, deren Motiv sich beim Betrachten weiter zu verflüchtigen schien. Sie wußte, daß sie später immer wieder darauf zurückkommen würde, daß sich für sie der Gang der Ereignisse zu einem größeren Teil um diese Tage rankte, ein paar bedeutungsvolle Punkte, und das übrige Leben ein verschlungenes Ornament darum herum. Es lief auf nichts hinaus. Es führte zu nichts. Es fühlte sich nicht einmal besonders gut an. Trotzdem schien sich hier etwas zu zentrieren, schien sie sich einem Zustand anzunähern, der Intensität versprach, eine Intensität, auf die sie lange gewartet hatte, ein Geheimnis, in dem sie sich aufhalten wollte, als käme sie nach einer Zeit des Halbschlafs endlich zu sich.
Sie setzte sich auf eine Bank unter Parkbäume, atmete den flirrenden Schatten. Die Schwäne glitten automatenhaft auf den Funken, die die Wasseroberfläche versprühte, es knisterte in ihrer Nähe. Man sah sie nur schlecht, der Tag, zu heiß und zu hell, verdeckte sie mit seinem Licht. Ein paar Wasserhühner zuckten hektisch durch den Glast. Mila kramte in der Handtasche nach ihrer Sonnenbrille. Die Schwäne hoben die Köpfe, merkten auf, einer von ihnen manövrierte sich ungelenk das Ufer hinauf. Sie fand den Watschelgang nicht putzig. Der Schwan warf sich plump nach rechts und nach links, er näherte sich ohne Geschmeidigkeit, walzte, reine Willenskraft, über den Weg auf sie zu. Die Sonne ruckte ein Stück weiter, ergoß sich über die Bank, die gerade noch im Schatten gestanden hatte, legte mit ihrem Licht alles in Fesseln. Mila bewegte sich nicht, als der Schwan den Hals reckte, die Schwingen entfaltete, böse zischte.
Engelhaft gleißende Schwingen, blendendes Weiß. Trudelnder Flaum und vollkommene Kreise. Flügel und Schwert. Die Sonne durchstieß die folgenden Schichten: Sphäre der himmlischen Gerechtigkeit, Sphäre der Weisheit und Anbetung, Sphäre der gefiederten Chöre, die aus 24 Buchstaben eine Welt erschaffen. Sie durchdrang die Sphäre der blauen Himmelsfarbe, illusionistisch auch diese, doch nicht weniger wahr.
Sie hielt ihm die offene Handtasche hin. Der Schwan betrachtete mit schiefgelegtem Kopf den blanken Schnappverschluß, dessen Hälften jetzt auseinanderklafften, dann tauchte er den Schnabel ein, fischte zwischen Lippenstift und Schlüsseln nach etwas Eßbarem, fand nur ein raschelndes Taschentuchpäckchen mit einem letzten Zellstoffrechteck, es schien ihm annehmbar oder gefiel ihm sogar. Der Schwan nahm das Päckchen mit ans Ufer, ließ sich damit zu Wasser, befeuchtete es, wie er sonst Brotstücke eintunkte, sie beschnäbelte, bis sie ihm genehm, bis sie mundgerecht waren. Ein zweiter Schwan paddelte heran, zerrte an der Hülle, der andere zerrte sie zu sich zurück. Dann verloren beide das Interesse, das nachtblaue Plastikstück trieb in der Entengrütze und blitzte, verfing sich im Uferbewuchs.
Die Teilnehmer strömten aus dem Institut, verloren sich im Gelände. Odilo stand in einer Gruppe, in der man noch weiter diskutierte. Er war kaum zu sehen, die meisten anderen überragten ihn. Kein imposanter Mann, keiner, nach dem sich die Frauen umdrehten. Aber wenn man ihn sprechen gehört hatte, blieb man gefangen von seiner Ausdruckskraft, von seiner unablässigen Bemühung, ein hohes Niveau zu verkörpern. Er kämpfte darum, es fiel ihm nicht leicht. Den meisten, die ihn umringten, glaubte sie anzusehen, daß ihnen eine gewisse Bildung, eine gewisse Weltläufigkeit, eine gewisse Geschmeidigkeit in die Wiege gelegt worden war. Sie bedurften keiner besonderen Brillanz, sie genügten stets den Ansprüchen, sie verfolgten keine Ziele, an denen sie hätten scheitern können.
Schließlich hatte sich die Gruppe aufgelöst, bis auf zwei Kollegen, mit denen sie essen gingen. Odilo war wesentlich jünger als die meisten anderen Teilnehmer, es flackerte um ihn. Mila wäre gern mit ihm allein gewesen. Die Kollegen, bullige, gönnerhafte Patriarchen, langweilten sie.
Meine Schwester. Sie nahm die Dinge nie fest in die Hand. Sie hielt alles locker, auch nicht zu locker, nicht nachlässig, nie fürchtete man, daß ihr etwas herabfallen würde, vielmehr schien es so, als würden die Dinge, die sie zu halten wünschte, für einen Moment von selbst an ihr haften. Nie sah man ihre Knöchel weiß hervortreten, nie knickte sie die Gelenke ab, sie drückte beim Schreiben den Zeigefinger nicht durch wie ich, sondern wölbte ihn sanft. Sie besaß, im Gegensatz zu mir, der ich für alles übertrieben viel Kraft aufwende, ein Gefühl für das richtige Maß. Sie brauchte nicht mehr Energie, als eine Bewegung erforderte. Das machte ihre Anmut aus, ihre Körperintelligenz. Und hier, am Strand, wenn die Hüllen gefallen wären, hätte ein unbeteiligter Beobachter sehen können, wie sie sich dadurch von den meisten anderen, den verkrampften, verspannten, unbeholfenen Badenden unterschied.
Mit ihm am Tisch, in Gegenwart der Kollegen, deren Unterhaltung sie nicht folgen wollte, verhielt sie sich ungeschickt, schien ihr alles zu entgleiten. Sie kam sich zu klein vor, um der Aufmerksamkeit der anderen wert zu sein, im selben Augenblick zu groß, als belästige sie alle anderen am Tisch mit ihrer Anwesenheit, mit ihrem Geruch, ihrer Form, ihrem Fleisch.
Wie eigenständige Wesen zerknüllten ihre Hände die Serviette, preßten und rollten sie auf dem Tischtuch, nervöse Welpen, die unablässig etwas zerkauten. Sie hatte sie nicht unter Kontrolle, pflückte Stücke aus dem Zellstoff, rieb sie zwischen den Fingern zu Kügelchen. Sie schloß die Faust um die Fetzen und drückte sie zu einem Ball zusammen, sie rieb sich die Hände mechanisch mit der hartgedrehten Serviettenkugel ab.
Weit hinten aufgetürmte Wolken. Pracht der Cumulonimbusse, die sich über mehrere Kilometer in die Luft erhoben, Stockwerk um Stockwerk. Die Schwüle. Das Weiß und die Würde. Die drückende Übermacht dieser Wolken spiegelte sich in Odilos Gesicht.
Mila sah in seinen Augen den verwaschenen Horizont, sah die Ungewißheit, ob man sich drinnen oder draußen aufhalten sollte: In den Innenräumen stand noch die heiße Luft, während es draußen schon kühler wurde. Draußen aber flogen die Insekten tiefer. Und bald würde es zu regnen beginnen.