Schwarz flirrende Wolken standen plötzlich auf der Promenade, Schwärme von Gewitterfliegen. Sie schwebten im Auftrieb der Luft, standen ein paar Meter über dem Boden, sie ließen sich nieder, wo ihre Insektenaugen vielversprechende Farben erspähten, die Illusion von Blütenmeeren, hellen Untergrund.
Fransenflügler im Ausmaß einer Plage, schwarze Punkte nur, winzige Würmchen, die sich auf den T-Shirts, den Hemdsärmeln krümmten. Sie klammerten sich an sommerliche Kleidungsstücke, die unter ihnen dunkel wurden, besetzten weiße und hellgelbe Flächen, die weiße Plastikbestuhlung vor den Eisbuden, die weißen Schriftzüge auf den roten Sonnenschirmen, sie saßen auf Milas rapsgelbem Kleid. Sinnlos, sie verscheuchen zu wollen, nutzlos, ihnen mit wedelnden Handbewegungen zu kommen, es gab keine Abwehrmaßnahmen. Man schritt durch sie hindurch, ging in einer Begleitwolke von Tierchen, atmete sie ein.
Sie wunderte sich, daß es den anderen Passanten nichts ausmachte, mit wimmelnden Hemden, schwarzverhängten Wänsten weiterzugehen. Waren sie arglos oder abgestumpft, mit Gleichmut begabt, mit Ignoranz? Auch Odilo schien es nicht zu kümmern, daß sie sich auf ihm niederließen, am Stoff seiner hellen Hosen klebten, er ging einfach weiter, als wisse er genau, daß sich der ganze Spuk in kürzester Zeit wieder auflösen müßte. Aber die Fliegen lösten sich nicht auf.
Ein Schwan watschelte auf der Promenade, auch er war in eine Wolke geraten, die ihn umschwärmt hatte, die ihm fest anklebte. Er reckte leicht den Hals vor, alle paar Meter schüttelte er sich. Wenn dies einen Effekt hatte, wenn die Tierchen sich hoben, so war dies nicht sichtbar. Sie senkten sich gleich wieder auf sein Weiß, oder sie blieben einfach haften. Der Schwan setzte seinen Weg fort, schaukelte seinen Leib durch die Urlauber, geschwärzter Schwanenleib, gänzlich von Fliegen bedeckt, wie ein Kadaver.
Mila blieb mitten auf der Promenade stehen, während andere Flanierende an ihr vorbeidrängten, ungerührt, als sei gar nichts vorgefallen. Sie aber sah sich außerstande, mit der Bürde dieser Fliegen weiterzugehen. Für Milas Empfinden hätte es ein lautloses Bild sein müssen, die Urlauber schweigend, der Schlag der Wellen gedämpft. Aber der Lärm war nicht verstummt, Kinder kreischten am Strand, Badende ließen sich nicht abhalten, auch wenn sich die Würmchen auf ihre ungebräunte Haut setzten, auf die Stellen, wo sich der weiße Schatten eines Tops auf dem Oberkörper abzeichnete. Die Urlauber rückten von ihren Strandgewohnheiten nicht ab, sie traten ans Wasser, wuschen die Gewitterfliegen weg, gingen schwimmen wie immer, und erst wenn sie das Wasser verließen, kamen die Schwärme erneut.
Odilo wedelte halbherzig ein paar Insekten fort. Die Schleier wichen aus und schlossen sich hinter seiner Hand wieder zusammen, als wäre nichts geschehen. Es irritierte ihn, daß ihm die Situation, auf die er lange hingearbeitet hatte, durch unvorhersehbare Umstände entglitt. Er zog sein Stofftaschentuch hervor und begann, damit über ihr Kleid zu wischen, er zerdrückte die Tierchen, erzielte nichts als einen schmierigen Film. Er erreichte damit, daß sie weiterging, die Arme angewidert zu beiden Seiten gestreckt, wie eine Seiltänzerin, balancierend auf Fliegen.
Die Gewittertierchen, beruhigte er sie, würden mit dem Ausbruch des Gewitters verschwunden sein. Sie solle sich jetzt ein anderes Kleid anziehen, ein dunkleres, und dann würden sie auf der Hotelterrasse etwas trinken, würden zusehen, wie sich die Wolken ballten.
17 Glanzapparate
Odilo stand im gerippten Unterhemd am Waschbecken. Er stand in Unterhemd und Unterhose und wusch sich unter den Achseln. Er ließ den Unterarm hängen, die Hand wie abwinkend, hob den Ellbogen hoch, flatterte. Er hantierte in einem Bad, das nach seinem Dafürhalten zu klein war, selbst für das Bad eines billigen Hotels. Er hatte nichts anderes mehr bekommen, es war Hauptsaison. Solide, aber geschmacklos eingerichtet. Elende hellblaue Kacheln, um zu demonstrieren, daß in diesem Raum Wasser lief, ein schwarzer Toilettendeckel, der dafür verantwortlich sein mochte, daß es wie in den Bädern der siebziger Jahre roch, eine Badewanne ohne Duschvorhang, die sich als Dusche nicht benutzen ließ, ohne den Raum unter Wasser zu setzen. Die Kacheln beengten ihn, er war nervös, hätte Mila lieber etwas anderes geboten. Etwas Großzügigeres, etwas Schönes. Statt dessen sah er sich gezwungen, in einer Räumlichkeit zu hampeln, die einer Behinderung gleichkam, die ihn in seinen Absichten nicht unterstützte. Waschlappen. Er hatte seit Jahrzehnten keinen Waschlappen mehr benutzt. Jetzt aber sollte es schnell gehen, er fand nicht die Zeit, in einer Wanne ohne Vorhang zu brausen und dann stundenlang den Boden aufzuwischen. Morgen früh würde dieser Waschlappen steifgetrocknet am Haken hängen, schon jetzt war es ihm peinlich. Der moderne Mensch duschte. Die Badezimmertür stand sperrangelweit auf, Odilo hatte sich zu rigoroser Offenheit entschlossen. Zur Vertraulichkeit eines Kindes. Sie sollte, durfte alles von ihm sehen. Er wollte Ernst machen. Schwächen zeigen. Anders ließ sich eine Beziehung gar nicht ertragen. Oder ließ sich nur auf diese Weise, indem er sich gab, als sei er allein, ihre Anwesenheit für diesen Moment vergessen? Odilo beugte sich vor und ließ Wasser über seine Arme laufen. Er legte sich ein Handtuch um die Schultern, hielt es an den Zipfeln straff, kam beflügelt ins Zimmer.
Weiße Unterwäsche, Altherrenpantoffeln, schlappender Gang. Sie konzentrierte sich darauf, wie der Trikotstoff näher kam, sich am Fenster grau verschattete, dicht vor ihren Augen pulsierte. Ein treuherziger Stoff, feingegliedert in einzelne Rippen, die sich dem Körper anschmiegten, ihn linierten. Einzelne Tropfen von den Wasseraktivitäten auf der Brust, eine Farbnuance dunkler, bebend.
Die Wolken rissen für einen Moment auf, ein Schlaglicht glitt ins Zimmer, das Unterhemd blendete sie. Sie schloß die Augen, spürte nur, wie der Strahl rasch verschwand, das Zimmer fremd und kühler zurückließ. Dunkelgrau und rauhhäutig wie die Füße, die Beine des Schwans. Sie sah ihn vor sich, seine Imponierhaltung: den Hals stark zurückgebogen, den Schnabel gesenkt, die Schwingen gelüftet.
Das Hotelhandtuch flog in den Sessel. Ein kleineres Stoffstück segelte hinterher. Weitere Sturzflüge im Zimmer, Unruhe. Schwimmfüße paddelten unter Wasser, ruderten durch Entengrütze, schleimige Grünalgen. Blasenkolonien stiegen auf, das Teichwasser perlte.
Gummikalte Hände legten sich auf ihren Bauch, tasteten über die Hüften, wanderten die Schenkel entlang. Schwimmhäute, dachte sie, die sich der Rundung anpassen. Die feucht ankleben, schwanenschwer lasten. Mila verhärtete sich. Häßliche Flossen watschelten über ihre ausgestreckten Beine, sie strich versuchsweise über die gespannten Häute, die sich von ihrem Körper nicht lösen wollten, griff nach den Knöcheln, zog sie noch weiter zu sich heran, wand sich unter ihnen weg.
Odilo stopfte das Kissen zurecht. Pumpende Leiber, von Federn umhüllt; ihr schien, daß aus dem Kissen Federkiele ragten, ein billiges Kissen mit Federn minderer Qualität. Die Spitzen stachen durch den Bezug, piksten sie in den Nacken, kratzten in ihrer Armbeuge, kitzelten. Ein Oberbett, vollgestopft mit hibbeligem Federvieh, drängte an sie heran, plusterte sich auf. Konturfedern spreizten sich, verlorene Flaumfedern flogen.
Sie hielt den langen Hals des Schwans, ließ ihn durch die Hand gleiten, ein seidenweicher Hals, der sich aufzulösen schien in Flaum. Flaum, der über ihre Wange strich, ihr ins Ohr flüsterte. Dann der Schnabel zwischen ihren Lippen, ein harter Schnabel, der sich in ihrem Mund aufsperrte, ihre Kiefer auseinanderzwang. Sie leckte über geriffelte Zahnreihen der Entenvögel; gleichmäßige Lamellen wie ein Waschbrett, eine Wasseroberfläche, von einer Zungenberührung in feinste Wellen geworfen und sofort erstarrt.