Wind stieß durch das gekippte Fenster, schob Odilos Papiere vom Tisch. Sie hörte sie über die Platte rutschen, über den Teppichboden schaben. Steigende, fallende Kurven. Die Blätter segelten aufs Bett, erhoben sich nochmals, schwebten durchs Zimmer. Papierflieger, Papiergefieder. Lose Steuerfedern. Deckfedern. Schwungfedern.
Eisengefieder quietschte. Sie bildete sich ein, die Sprungfedern durch die Matratze hindurch zu spüren, zu Wirbeln gebogene Drähte, Wirbel, die dem Körper Auftrieb verliehen. Wirbel, verhärtet, in denen sich die Natur bewegte. Strudelndes Wasser. Kreiselnde Luftmassen. Trudelnde Daunen.
Vage Federfinger strichen durch die Luft, vornehm verlängerte Finger, die nichts bewegen, nichts greifen konnten. Sie streiften ihr Haar, umhüllten ihre Schultern. Fittiche umgaben sie, schwangen sich auf.
Ein Abend, an den sie sich nicht erinnern wollte. Heruntergekommene Schwäne paddelten zwischen Plastikflaschen, bettelten majestätisch um Brot. Sie trug eine Pudelmütze und Fausthandschuhe, sie reichte noch nicht über das Geländer zum Fluß. Sie brach, vom dicken Handschuh beeinträchtigt, Stücke von den Graubrotschnitten ab, warf sie durch das Gitter ins Wasser, ein Schwan reckte den Hals nach ihr.
Sie wußte nicht, ob sie ihn mochte.
Kofferraumdeckel knallten zu, Scheinwerfer fraßen sich hinter ihr vorüber. Ein Abend, der nicht ausbrach, der immer Schwelle blieb, immer kurz davor. Sie hielt sich am Geländer fest, das Brot schwamm zwischen Abfällen, sie warf die Tüte hinterher, die weiß gebläht auf dem Wasser aufsetzte, der die Schwäne folgten.
Schwäne, ihr dünkelhaftes Betreten von Grünanlagen. Sie hatten über Reisen gesprochen, über den Wunsch, eine undeutliche Sehnsucht in Bewegung zu verwandeln. Lauter zugvogelhafte Bestrebungen, flüsterten sie sich zu, die doch darauf hinausliefen, daß man gemeinsam voreinander floh. Der Wille zur Handlung war da. Sie kannten sich kaum.
Mißvergnügt überflügelte Parkhäuser. Mauserzüge. Rastloser Flug. Erregtes Wasser unterhalb. Das Gehetzte ihrer Beziehung. Das Getriebene. Reisen: Sie reisten sofort.
Daß jede Reise einer vergeblichen Sehnsucht nach innerem Leuchten stattgab. Die mechanische Erzeugung einer Bilderfolge, deren Zusammenhang sich im nachhinein als zwingend erwies. Ein Lichtbildervortrag, an dem doch das wichtigste die Lücken zwischen den einzelnen Dias waren, langes Warten an unwirtlichen Haltestellen, die Absturzkante vor dem Schlaf in unbekannten Räumen, der Atem fremder Passagiere im Sitz nebenan. Die Erfahrungen im nachhinein unbenennbar, weißes Rauschen, das sich sofort verflüchtigte, nachdem es für einen flackernden Moment gelungen war, mit gleichmäßigem Flügelschlag wie ein Dynamo Lichtenergie zu erzeugen, ein Glosen aus dem Körperinneren. Man schien immer heller zu werden, während es draußen immer dunkler wurde. Beides erfüllte sie mit Angst.
Odilo knipste das Licht an und aus. Die Nachttischlampe schien ihm ins Gesicht, er rückte sie hin und her. Die Deckenleuchte wiederum war zu schummrig, so schummrig, daß man erst recht das Bedürfnis verspürte, ein Licht anzuschalten, diese Leuchte deprimierte ihn, das ganze Zimmer tat ihm nicht gut. Er löschte die Nachttischlampe, löschte die Deckenlampe. Es blieben die Neonröhren im Bad, bei offener Tür. Er sammelte seine Papiere ein, die über den Boden verstreut lagen, sortierte sie, brachte sie auf Kante.
Draußen kam Wind auf, er war ihm zu laut. Er verriegelte das Fenster, sofort wurde es stickig im Raum.
Er zog sich sein Unterhemd wieder an. Er fühlte sich seiner gewohnten Umgebung entkleidet. Sonst gaben ihm die Schränke, die Zimmerwände Halt. In diesem Hotelzimmer stand alles im Weg. Er stieß sich am Bett. Lief gegen den Sessel. Stolperte über Koffer: Er rannte gegen all das an. Ungeschickt. Seines Körpers nicht mächtig. Das Zimmer zu klein, die Welt widerspenstig, zu hart für ihn.
Er legte sich wieder hin, nahm Milas Hand. Mit der anderen hielt er sich am Bettpfosten fest.
Durchaus klammerte er sich an Dinge, aber sobald er sie brauchte, verloren die Dinge ihre Substanz. Sie entglitten ihm, korrodierten, verfaulten, versprödeten. Er fand nicht die Kraft, der rasenden Materialermüdung etwas entgegenzusetzen, ihr zumindest mit Skepsis zu begegnen.
Ein helles Rechteck malte jetzt ein Waschbecken an die Wand. Er stand noch einmal auf, löschte es aus. Fand das Bett wieder, und erst jetzt verschmolzen die Wände mit dem Dunkel des Raums. In Gedanken versuchte er die Anlage des Zimmers nachzuvollziehen, strich er mit beiden Händen über die häßlichen Tapeten, tastete die Sperrholzschränke ab, nicht als wäre er blind, eher als suchte er ein Pferd zu beruhigen, das sich störrisch weigerte weiterzugehen, den Kopf aufgeworfen, die Nüstern gebläht, mit bebenden Flanken.
Es wunderte ihn kaum, daß das Zimmer verschwand, jetzt, da Mila bei ihm lag. Man konnte, Spruch seiner Mutter, nicht alles haben. Hätte er gern alles gehabt?
Er lag neben der Frau, neben der er hatte liegen wollen, er kam sich aufgeweicht, ausgesetzt vor. Wie die Kuppe des Cremestrangs, den er vorhin aus der Tube gedrückt hatte und der, als er losließ, wieder zurückgesaugt wurde. Ihm blieb ein zerkautes Dunkel, in dem es schwerfiel, ein Gefühl überdauern zu lassen. Entweder — oder, Spruch seiner Mutter. Was er fühlte, war Eifersucht, Eifersucht auf sich selbst. Konnte man das eine gelungene erste Nacht nennen?
Mila war eingeschlafen, und er betrachtete die Haarsträhnen, die ihr tentakelglatt über die Wange fielen, von ihrem Atemhauch nicht bewegt. Er war enttäuscht, daß sie schlief, verlegen, weil sie schlief, er schämte sich, daß er enttäuscht war. Normalerweise wäre er jetzt aufgestanden, hätte sich an den Schreibtisch gesetzt und die Arbeit dazu genutzt, seine Festigkeit wiederzugewinnen, sich abzulenken. Er hätte zu Beginn mit unterschiedlich harten Bleistiften auf einen Fetzen Karton, auf ein Stück Obsttüte gepocht, um sich in Form, in Stimmung zu bringen. Statt dessen rückte er dichter an sie heran. Es konnte nicht gutgehen mit ihnen. Er mußte die Hände ins Kissen krallen, um sie nicht aufzuwecken.
Sie hatten nachmittags lange auf dem Bett gelegen und zugesehen, wie die Bäume erst dunkelgrün, dann schwarz und flach wurden, Schattenrisse, die plötzlich, wenn es blitzte, wieder Volumen erhielten, die bei jedem Blitz nach vorn gerissen wurden, mit Abertausenden grellumrandeten Blättern wogten, um sofort darauf wieder zurückzufallen, in die Fläche, in die Dunkelheit.
18 Rückenfiguren
Ich sehe Odilo vor mir, von hinten, wie er am Meer steht, immer sehe ich ihn von hinten, als hätte ich mich stets hinter ihm anstellen müssen, selbst für einen Blick aufs Meer hinter ihm anstellen, er trägt einen teuren Anzug, gute Schuhe, völlig falsch gekleidet für den Strand.
Ich sehe die Szenerie mit seinen Augen, graues Meer, das ihn aufsaugt, Unorte eines grauen Strandes, Leere eines Windes, gegen den ihn nichts schützt, keine Gebäude, kein vernünftiges Kleidungsstück; er wappnete sich nicht, das war seine Methode, alles Bedrängende seiner Umgebung zu leugnen.
Ihn immer nur von hinten zu sehen erzeugte in mir gewöhnlich den leichten Unmut, der damit einhergeht, von etwas Wesentlichem ausgeschlossen zu sein. Sein Egoismus, selbst in der Landschaftsbetrachtung. Nie standen wir zusammen und blickten über ein Feld, über ein Gewässer, er richtete es so ein, daß ich hinter ihm stand, er drehte sich weg, wandte sich einem anderen Objekt zu. Sonnenuntergang an der Kiesgrube: Wir standen nebeneinander am Ufer, vor uns die rote Sonne, und es hätte ein gemeinsames Erlebnis sein können, doch er wandte sich ab, studierte das Licht auf den Zweigen, die ins Wasser hingen, vielleicht sah er auch etwas ganz anderes, das ich nicht erkennen konnte. Den ganzen Tag über hatte ich unwillkürlich darauf gewartet, etwas mit ihm gemein zu haben, während er mir das Gefühl gab, auch während der gemeinsam verbrachten Zeit nicht wirklich anwesend, jedenfalls nicht bei mir zu sein. Ich blickte auf seinen Rücken, und auf einmal bekam ich Angst, daß er sich doch umdrehte, daß er sich plötzlich umdrehte und sein wahres Gesicht zeigte.