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Er interessierte sich nicht für die Aussicht ins Weite, er wollte die Empfindung, ausgesetzt zu sein, nur ungern vor sich selbst zugeben; eine winzige Figur auf einem Plateau vor dem ungleich größeren Meer, solch einem Gedanken konnte er nichts abgewinnen. Er bevorzugte innere Postkarten, das Wissen, irgendwo gewesen zu sein und einen Ort damit einzukassieren.

Ihn immer nur von hinten zu sehen in diesen Momenten, die er in einer angestrengten Einsamkeit verbrachte: Die manchmal nur winzige Bewegung des Sich-Abwendens verhinderte, daß ich auch nur einmal sehen konnte, was in ihm vorging. Er verbarg sein Mienenspiel, er wollte in bestimmten Situationen, und sei es nur für Augenblicke, allein sein. So kann ich nur erahnen, nur notdürftig rekonstruieren, mit welchen Methoden er die peinliche Leere, von der er sich bedroht fühlte, zu bekämpfen suchte. Er floh sie nicht, im Gegenteil, manchmal schien es mir, daß er solche Momente, in denen er vom Eindruck der eigenen Nichtigkeit überwältigt zu werden drohte, geradezu mit Besessenheit herbeiführte. Dann aber ging es darum, die Leere eines solchen Moments zu besiegen, indem er sie in sich hineinnahm, beherrschte, auffraß.

Sie waren lange am Strand gewandert. Die Sonne hatte schräge Strahlen geworfen und lange Schatten vor ihnen laufen lassen. Sie füllte die Mulden im Sand mit einem stumpfen nichtigen Dunkel, sie vergoß dort, wo der Sand aufgeworfen lag, ihre blendende Pracht. Strandläufer, braungefleckte rasche Federkugeln, rannten in albernem Trickfilmtempo über den Sand, dort, wo der Wellensaum anbrandete, und balgten sich um ein Stück Fisch.

Mila hatte dem flimmernden Reiz, der narkotischen Schönheit des Tages nicht trauen wollen. Die Nähe, die sich zu Odilo einstellte, einfach dadurch, daß sie Zeit miteinander verbrachten, konnte jederzeit wieder schwinden.

Mila hielt sich an einem Schild fest, das den Hundestrand auswies, schüttete sich zum hundertsten Mal den Sand aus dem Schuh.

Der Sand war an diesem Strandabschnitt grob, ein schwärzlicher Kies, der drückte. Normalen Badesand hätte sie ertragen, es sogar genossen, daß sich die Schuhe damit anfüllten, sie mit dem Untergrund verbanden, als ginge sie barfuß, sie wünschte sich pudrigen Vogelsand in ihre Schuhe. Schwarzen Kies litt sie nicht, sie hatte immer wieder ihren Gang unterbrechen müssen, an Gegenständen, Balken, Wellenbrechern Halt gesucht, glitschig-poröse Felsen berührt. Odilo lief, wie schamhaft, ein paar Schritte voraus, als wolle er ihr die Peinlichkeit ersparen, bei einer intimen Verrichtung ihr Zeuge zu sein.

Meine Schwester in dieser altmodischen Aufmachung. Mit cremefarbenen Spangenschuhen, einem beigegrauen Mantel, wollweißem Schultertuch. Meine Schwester in Eierschale, Chamois, Salböl, ganz Beschwichtigung, ganz Trost und Watte, meine Schwester ganz Leichtigkeit und Sommerfrische, allerdings Sommerfrische in einem baltischen Badeort, fünfzig Jahre zurück.

Sie knöpfte ihren Mantel zu, zog das Tuch straff.

Das Wasser hatte sich entfernt, war zurückgekommen.

Nachmittags zogen unerwartet Wolken auf, verdüsterten sich, Schauer fegten plötzlich über den Strand, und sie stellten sich an der Seebrücke unter, den Rücken gegen den Wind gewandt. Sie blickten den Strand entlang, den uferlosen, endlosen Sandstreifen, über den sich der Regen senkte, nicht sanft wie ein Vorhang, sondern mit einer aggressiven Schnelligkeit, die die Sicht immer mehr verwischte und alles, was weiter entfernt war, verschwinden ließ. Die Stimmung war umgeschlagen, der Herbst kam, und mit ihm die Auflösung der Oberflächen, denen sie sich bis hierher anvertraut hatten.

Als der Regen nachließ, betraten sie die Brücke. Nasse Holzbohlen federten unter ihrem Gewicht, Möwen kreisten mit fordernden Rufen vor einem farblosen Himmel, ließen sich auf dem Geländer nieder, warteten auf eine Gabe, aber Mila hatte nichts. Sie suchte in ihrer Handtasche und fand zwei Pfefferminzbonbons. Odilo kaute seins hastig und achtlos, ihres war an der Außenseite weich geworden, sie wußte nicht, wie lange sie es schon in der Tasche mit sich herumgetragen hatte, es war alt, aber immer noch süß und scharf.

Die Seebrücke hörte kurz vor dem Ende auf. Dort, wo sie sich zur Aussichtsplattform verbreiterte, wo seitlich mit Eisenstangen der Zugang zur Taucherglocke markiert war, mit der man im Sommer, wenn Kirmesstimmung herrschte und die schreienden Schriftzüge vor der Kapsel, die jetzt seltsam anmuteten, zu ihrem Recht kamen, ein paar Meter bis auf den Grund fahren konnte, dort, wo mit dem Brückenkopf ein Ziel erreicht worden wäre, der weiteste Weg hinaus, hatte man die Planken entfernt, und sie sahen nicht aufs Meer, sondern durch die Stahlträger und Betonteile hindurch auf bräunliches Wasser, in dem einzelne dicke Tropfen versanken.

Odilo hob sofort den Kopf und versuchte, sich auf den verwaschenen Horizont zu konzentrieren, etwas zog ihn zu diesem Horizont, und er wäre gern noch die paar Schritte bis zum Ende der Brücke gegangen, um ihm so nah wie möglich zu kommen, oder wenigstens, da das ein geographischer Fehlschluß war, einer Anziehungskraft so weit wie möglich zu folgen, und es kränkte ihn, daß eine unvollständige Brücke solche Ausschweifung verhinderte. Er wandte sich ab und wollte gehen.

Mila hielt seine Hand fest und blickte weiter in den trüben Abgrund, auf den Furor der braunen Wogen, den die Touristen im Sommer mit der Taucherglocke durchstießen, um in die Tiefe zu fahren. Sie wünschte sich für einen Moment, noch einmal im Sommer wiederzukommen und es auch zu tun. Einfach hinunterzufahren, weit nach unten, irgendwo hinzukommen, wo man die Oberflächen hinter sich gelassen hatte.

Odilo zog sie weg. Sie rutschte jetzt auf dem glitschigen Holz, Odilo legte ihr den Arm um die Taille, und Mila versteifte sich.

Theorie des Schönen

Etwas Schönes, das in der Ferne aufscheint, immer in der Ferne, zu dem hin man sich werfen möchte und das sich doch, je näher man heranzutreten meint, desto weiter entzieht. Als erzeuge der Sehvorgang bereits einen festgelegten Abstand, der nicht zu überbrücken ist. Als würfe der Blick die Dinge aus uns heraus und mache sie mit ihrem Erscheinen zugleich unerreichbar: Luftschlösser, Hirngespinste, Traumgebilde, die wir normalerweise in uns tragen, in der inneren Dunkelheit, und die wir mit einem beiläufigen Es werde Licht aus uns herauszustellen gewohnt sind, ohne den Vorgang selbst überhaupt zu bemerken. Wir bemerken allenfalls das Verlangen, mit dem wir dieses Lichtbild wieder zurückholen wollen; beharren aber auf der Distanz, die nun einmal eingetreten ist und die sich weiterhin zeigt und ihr Recht behauptet, eine Distanz, hergestellt, um vergessen zu lassen, daß wir selbst diejenigen sind, die sich mit selbsterzeugten Illusionen täuschen.

Sie gingen weiter den Strand entlang, in den unbrauchbaren Spuren der Vorgänger. Hin und wieder bemerkten sie andere Paare, nur wenige bei dieser Witterung, von denen sie sich fundamental zu unterscheiden meinten. Von weitem nahmen sie die Erbärmlichkeit der anderen wahr, ihre Hinfälligkeit in den wetterfesten Anoraks, die Begrenztheit der Vorsorgemaßnahmen. Sie behaupteten demgegenüber im Besitz der größeren Würde zu sein. Hüllten sich in ihre Isolation zu zweit; beschäftigt mit dem Versuch, ein eingebildetes Leuchten nach außen dringen zu lassen.

Lange Wege am Strand. Das Bodenlose, in dem diese beiden Figuren den festen Punkt bildeten, die ruhende Mitte, von der alles ausging; Ordnung und Unordnung.

Lange Wege am Strand. Angespülte Abfälle, Plastikflaschen und Kanister, glattgewaschenes Holz. Ein babyblauer Perlonpullover, in Sand und Tang gewiegt. Muschelschalen, die unter ihren Tritten zerknackten.

Sie hielten inne, wo sie das Ufer übersät mit Kugeln fanden, Kugeln aus einer heuartigen Masse; Mila stieß sie mit der Schuhspitze an; sie waren leicht. Abgerissenes Seegras, dem Roß des Okeanos zum Fraß vorgeworfen, von der gleichmäßigen Peristaltik der Wellen zu Bällen gerollt, kleine Tischtennisbälle und größere Tennisbälle, perfekt gerundete Pferdeäpfel der See.