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Patientenfragmente erscheinen während der Mahlzeiten, ein um das Stuhlbein geklammerter Schenkel, eine Hand, die immer dieselbe Bewegung ausführt, Puzzleteile. Spiegelsaal der Seele: Darauf beruhen die Störungsbilder der Patienten, auf dem Trumpf eines inneren Abgrunds, Triumph des Traums.

Regeln der Gegenwart: Im Alter von 22 bis 28 Jahren findet nach den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie die Integration in die Gesellschaft statt. Dies geschieht durch Partnerwahl und die Aufnahme einer Berufstätigkeit.

Ich bin jetzt 32 Jahre alt. Meine Integration in die Gesellschaft kann durch die Aufnahme einer Berufstätigkeit als erfolgt gelten, allerdings steht die Partnerwahl noch aus. Muß deshalb, frage ich mich, mein Verhältnis zu den Patienten als eine Ersatzliebe gelten? Als eine verzweifelte, düstere, deutlich herabgedimmte Liebe, die nach allen Regeln der Entwicklungspsychologie letztlich ungültig ist? Kann meine Situation im Schloß, frage ich mich außerdem, als normaler Lebenslauf gelten, da es ohne die Wende niemals dazu gekommen wäre? Die Wende hat stattgefunden. Orte haben sich verschoben, Biographien sind gebrochen. Jetzt ist es unsere Aufgabe, diese Einrichtung nach den Maßstäben der bundesdeutschen Psychiatrie neu aufzubauen.

Irrenarzt, war es meinem Vater herausgerutscht. Ein unpassendes Wort, der Erregung des Augenblicks geschuldet, aber es war ausgesprochen, und dabei blieb es. Warum tust du uns das an, hatte er gefragt, warum nicht wenigstens dies oder das, etwas Anständiges.

Irrenarzt, hatte mein Vater in einem unbeherrschten Moment am Frühstückstisch gesagt, Irrenarzt in einer Schloßruine!

Mit meiner Berufswahl bin ich aus der Familie ausgeschert. Arzt hätten sie ohne weiteres gelten gelassen, aber mit Irrenarzt überschritt ich zweifellos eine Grenze ins Ungehörige, Liederliche und Verruchte. In unserer Familie galt die Furcht vor Übertragung. Wer mit problembeladenen Personen Umgang pflegte, zog diese Probleme unweigerlich auch auf sich selbst, und in dieser Logik konnte die vielbeschworene christliche Nächstenliebe nur darin bestehen, durch Materialspenden die Probleme aus der Welt und für sich selbst Abstand zu schaffen. Leute, die nicht zurechtkamen, packten nach Ansicht der Familie das Leben falsch an, sie gaben sich nicht hinreichend Mühe und beharrten auf einer fragwürdigen Unangepaßtheit, es waren Leute, deren Problem darauf zurückzuführen war, daß sie sich an der entscheidenden Stelle den gesellschaftlichen Pflichten verweigerten. Neben dieser Ansteckungsangst, die einen sozialen Beruf im Grunde indiskutabel machte, bestand ein ausgesprochener Widerwillen gegen Fragen der Seelenkunde. Psychologie durfte es nach Ansicht der Familie nicht geben, psychische Krankheiten wurden nicht gelten gelassen. Im Zweifelsfall helfe Arbeit, zweitens Heirat, drittens das Gebet. Alles andere ein egoistisches Querschießen, ein sich Hineinsteigern ins Negative, eine Mischung aus Faulheit, Grübeln, Wirklichkeitsferne, selbstbezogen, verantwortungslos. Meiner Mutter gefiel nicht, daß in jeder psychologischen Studie die Schuld bei der Mutter gesucht wurde, meinem Vater gefiel nicht, daß man seine Zeit damit verschwendete, Innenschau zu betreiben, während es in der äußeren Welt genug anzupacken gab.

Und wenn ich mich unbedingt durchsetzen müsse: dann doch wenigstens eine Stelle in der Nähe, nicht im Osten.

Unsere Großeltern, die aus dem Osten stammten, waren im Räderwerk des Krieges zermahlen worden. Isidor Janich, mein Großvater, war von Beruf Hilfslehrer in der Volksschule. Er wohnte nicht wie der Hauptlehrer im Schulhaus, sondern betrieb am Rande der Ansiedlung noch eine kleine Landwirtschaft. Er hielt eine Kuh, besaß einen Acker, auch eine Wiese, auf der sein Sohn Johannes die Gänse hütete. Sidonia, Isidors Tochter, hielt sich vom Bäuerlichen, so sie konnte, fern. Sie neigte, hieß es, der höheren Bildung zu.

Isidor betreute zu dieser Zeit nicht nur seine Schule, sondern unterrichtete im täglichen Wechsel auch im Nachbarort, wo längst kein Lehrer mehr war. Vielleicht wollte er die Schüler nicht im Stich lassen. Vielleicht konnte er es auch einfach nicht glauben. Er bereitete sich zu spät auf die Flucht vor. Soldaten erschlugen Isidor Janich im eigenen Haus. Seine Frau Katharina und Tochter Sidonia nahmen sie mit. Johannes überließ man sich selbst. Er zerrte eine Decke unter die Küchenbank und verbrachte dort die Nacht, das Gesicht zur Unterseite der Sitzfläche gerichtet. Katharina wurde am nächsten Tag im Graben aufgefunden. Sidonia ließ man am Leben.

Die Kinder begruben ihre Eltern, so gut sie es konnten, im Garten. Sie zogen ins Schulgebäude, hausten mit den anderen Überlebenden aus der Nachbarschaft im Klassenzimmer. Nach zwei Wochen kehrten sie in ihr Elternhaus zurück. Die Gänse waren in ihrem Schuppen verbrannt, die Kuh verschleppt. Zwei alte Frauen hatten sich in das Haus geflüchtet und im Kartoffelkeller verbarrikadiert. Mit diesen beiden Frauen lebten sie über ein Jahr. Sidonia las nichts mehr, sie pflückte Huflattich und Sauerampfer, kochte Brennesseln. Johannes ging betteln. Schließlich wurden die Geschwister ausgewiesen, zu Verwandten ins zerbombte Köln geschickt.

Theorie der Zeit

Was vergeht? Die Zeit? Wer vergeht? Die Zeit existiert nicht. Wir stellen sie her, indem wir versuchen, uns zu erinnern. Indem wir einen Duft aufnehmen, einen Klang, eine vage Empfindung, und daraus eine Vergangenheit konstruieren, die stattgefunden haben könnte, stattgefunden hat, und jetzt nur mehr eine Atmosphäre ist, die uns durchdringt.

Wir leben in der Illusion von Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Zwar haben wir Anhaltspunkte, daß es sich anders verhält, daß die Planeten um die Sonne kreisen, aber im Alltag bleiben wir dabei: Es wird Tag, wir erwachen, die Sonne geht auf.

Nun kreist die Sonne auf ihrer scheinbaren Bahn und bestimmt uns die Stunden. Wir beobachten ihre großen Bögen, Ornamentik des Raums, die den Nebel vertreibt.

Von nun an gilt: Nichts wiederholt sich. Der lineare, der zielfixierte, nicht umkehrbare Zynismus der Zeit macht Dinge mit uns, die wir nicht wollten. Zeugt Vorher und Nachher. Schickt uns das Licht längst erloschener Sterne. Richtet die Sehnsucht auf die Zukunft aus. Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden, aber das Gegenteil ist der Fall.

Wir erfinden die Zeit, und dann läßt sie uns sterben.

Argumente der gräflichen Schlafgemächer: Insgesamt hat sich der Raum seit der sogenannten Wende wieder ausgedehnt. Die Grenzen, auch die psychischen, öffnen sich, der Zeit, auch der seelischen, wird eine größere Tiefe zugestanden, die Erinnerung tritt nicht mehr auf der Stelle. Man darf von einem Traum in den anderen gleiten, Erinnerung und Erfindung ohne schlechtes Gewissen vermischen; das Gegenwärtige nimmt zu, die Leere nimmt ab.

Unbegründete und auch scheinbar begründete Ängste werden durch das Freundliche, Helle, Nette der Inneneinrichtung, also durch lichte Möblierung und pastellene Raumgestaltung, kompensiert, beschwichtigt oder im Keim erstickt. Wir sind noch nicht soweit.

Statt dessen ist jeder Winkel im Schloß ausgemalt, mit düsteren Bildern verhängt, mit majestätischen Tapeten zugekleistert. Überall Götter und Putten, überall Schwere und Stuck. Nur hier und da, wo der Putz fehlt, sind Teile der Geschichte herausgebrochen, ist die Erinnerung verwischt vor Wut.

Nebel im Schloß. Die Küche füllt sich schon morgens mit Schwaden. Das Deckengemälde, das eine rosige Wolkenschicht darstellt, schwebt über dem Dampf und ist angegriffen von ständiger Feuchtigkeit. Dicke Engelchen blicken durch Schleier herab, darunter erwärmt sich der Konvektomat, in den die Küchenhilfen Bleche mit tiefgefrorenen Kroketten und tiefgefrorenem Cordon bleu schieben, darunter schneiden sie Gemüse und verrücken die Töpfe, darunter das Wischen und Spülen, das Hantieren der Putzfrauen mit den Schrubbern, ihre gebeugten Rücken, ihre unentwegten Reinigungsversuche gegen den nie sich vermindernden Dunst.