Argumente der Korridore: Ich träume, daß ich mit dem Patientenfernseher vor der Brust durch die Gänge laufe. Aus apotropäischen Gründen habe ich mir das Gerät vor die Brust geschnürt, mit dem Bildschirm nach außen. Wir sind hier im Grunde mit Dämonenabwehr befaßt.
Argumente des Kellers: Die neuen Bundesländer bringen ein zusätzliches Unbewußtes in das kollektive Unbewußte ein, mit dem niemand gerechnet hat und das niemand zu handhaben versteht.
Der betonierte Innenhof, unter dem noch das alte Kopfsteinpflaster liegt: Noch vor wenigen Monaten ging gelegentlich eine Erschütterung durch die verwitterten Statuen, die von den Detonationen auf dem Truppenübungsplatz stammte. Jetzt passiert nichts mehr, es ist die Stille nach dem Schuß. In der Mark Brandenburg findet die 50. Bombenentschärfung nach der Wende statt.
Ich drehe weißbekittelt meine Runde. Die Last der Historie drückt auf die Räume. Im Raum reagiert man mit Schlaf; einem Schlaf, der übergeht in den hundertjährigen Schlaf der Mauern, der verwachsenen Hecken, der Eiben im Park.
Et ipsi tamquam lapides vivi, und auch ihr, als die lebendigen Steine, superaedificamini domus spiritalis, bauet euch zum geistlichen Hause, offerre spiritales hostias, zu opfern geistliche Opfer, acceptabiles Deo, die Gott angenehm sind.
Die Schlafenden. Im Lazarett. Der schlafende Graf in seinem Rahmen. In den Schlafkammern das schlafende Getreide. Ruhendes Laborgerät. Eine Röhrenlampe bescheint gestreifte Liegen mit leicht erhöhtem Kopfteil. Die schlafenden Patienten: ihre Finger in die Bettdecke gekrallt, ans Kissen geklammert, Finger, die im Schlaf an die eigene Wange greifen wie an eine Brust, Finger, in denen nachts die Effekte der Tage nachzucken, einer Gegenwart, dürftig zusammengemischt aus Überraschung und Überdruß.
Deponentes igitur omnem malitiam et omnem dolum, so leget nun ab alle Bosheit und allen Betrug, et simulationes, und Heuchelei, et invidias, Neid, und alles Afterreden, et omnes detractiones.
Die Schlafenden. Ihre Erschöpfung, die als warme Luft hinauf ins Weltall steigt. Die Schlafenden. Ihre ängstliche, bittstellerische, zusammengezurrte Körperhaltung, ihre Dauerbetäubung, ihr Tiefseegefühl.
Die Schlafenden: sind nicht schuldfähig, wie die Kinder.
Und immer noch geschieht es mir, daß ich in meinem alten Kinderzimmer aufwache, daß unten meine Eltern am Frühstückstisch sitzen, nichts sich verändert hat.
Quasi modo geniti infantes, halleluja, wie die gerade geborenen Kinder, rationabile, sine dolo lac concupiscite, seid begierig nach der Milch der Vernunft und der Lauterkeit, Halleluja, und erinnert euch an die neue Geburt, die wir durch Wasser und Geist erfahren, durch den ewigen Wellenschlag der Wahrheit, durch die frei wehende, brausende, dahinstürmende Güte, die sprühende Gischt des Schönen.
20 Sonnenstein
Beim Sonnenstein handelt es sich um einen Kalkspat mit der besonderen Eigenschaft der Doppelbrechung, die es den Wikingern ermöglichte, auch bei bedecktem Himmel nach dem Sonnenstand zu navigieren. Der Sonnenstein hat nahezu rechteckige Form, er ist klar wie Bergkristall, in seinem Prisma bricht sich das Licht in zwei Bahnen. Wird der Stein so gedreht, daß die beiden Bahnen in ihrer Helligkeit übereinstimmen, zeigt er in Richtung der hinter Wolken verborgenen Sonne.
Es war ein Tag Anfang Juni 1946, drei Wochen vor seinem Namenstag, als Johannes Janich, sechs Jahre alt, an der Hand seiner Schwester die Heimat verließ. Er stand mit Sidonia vor der Gastwirtschaft im Dorf und trug einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, darin ein Unterhemd, ein Hemd, ein Paar Strümpfe, ein Stofftaschentuch. Ein Pferdewagen fuhr vor, sie bestiegen die Ladefläche und wurden zum zehn Kilometer entfernten Bahnhof gefahren. Erwachsene liefen die Strecke zu Fuß. Die Geschwister reisten unbegleitet.
Mit anderen Ausgewiesenen pferchte man sie in Viehwaggons, sie ratterten drei Tage quer durchs Land, und was bisher ein Ort, die Heimat, gewesen war, löste sich im wirren Umherfahren, Rangieren, Abkoppeln, Ankoppeln auf.
Durch die Ritzen im Waggon spähte Johannes hinaus auf die Felder, die rot überflammt waren von Mohn. Ein feuriges Rot wie das kommunistische Rot, das sich jetzt über diesen Landstrich legte und vor dem sie flohen, ein Rot wie das Kardinalsrot, dem sie in den Westen nachzogen, das katholische Klatschmohnrot des gnädigen Vergessens.
Durch die Ritzen im Waggon pfiff der Wind. Johannes, vom Hunger geschwächt, erkältete sich sofort. Er saß auf dem Boden, lehnte die Wange an sein zerknülltes Taschentuch, hielt sich an der Hand seiner Schwester fest.
Ritzen im Waggon, die hell und wieder dunkel wurden, Tage und Nächte. Tag um Tag flohen Bahnschwellen unter ihnen weg, die winzigen Maßeinheiten eines Zeitstrahls, zu schnell vorüber, als daß sie zu einer deutlichen Vorstellung hätten werden können. Tag um Tag blieb die Landschaft zurück, fielen Landschaftsbilder in eins; drei Tage, die den Kindern wie drei Wochen schienen, drei Wochen wie ein Block, der sich plötzlich zu einer Anhöhe aufwarf, zu einem Hochplateau über der Stadt. Auf der Felsterrasse, die zum Fluß Elbe steil abfiel, thronte Schloß Sonnenstein.
Beim architektonischen Komplex Sonnenstein handelte es sich um die Gebäude der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt. Zu Seiten der Festung lagen Villen in Parkanlagen verstreut, durch die ehemals weißbekittelte Pfleger zogen, Schwestern in hochgeschlossenem schwarzen Ornat, mit dem Schürzenlatz über der Brust, der reinweißen Schleife im Rücken, der Haube im straff gescheitelten Haar. Schwestern, die zügigen Schritts ihren Aufgaben nachkamen, weiße Flecken, die zwischen Bäumen und Buschwerk auftauchten, dann verschluckt wurden vom Schatten, vom Licht. Weiße Flecken, vom Rhododendron aufgesogen, vom Rasen wieder ausgespien, sie unterhielten das progressivste Institut im ganzen Land. Patienten in Anstaltskleidung hackten gruppenweise verwilderte Beete. Sie zogen Furchen in den Ackergrund, führten Malerarbeiten in den Zimmern aus, sie flochten Körbe, halfen in der Küche: Die Anstalt Sonnenstein verschrieb sich der Humanität. Man sah von Zwangsmaßnahmen wie der Isolierung in Käfigen weitgehend ab, führte Beschäftigungstherapie ein, man nutzte das Badewesen zu Heilzwecken. Sturzbad. Kaltbad. Kopfbad. Unruhigen Patienten, die in anderen Einrichtungen fixiert worden wären, bereitete man ein Dauerbad mit Körpertemperatur. Die Kranken wurden so lange gebadet, bis ausreichende Beruhigung, bis Schlaf eintrat.
Als bekanntester Patient der Anstalt darf wohl der Senatspräsident Schreber gelten. Im Hinblick auf seine geistige Verfassung und in Anbetracht seiner Herkunft aus der gehobenen Klasse traktierte man ihn nicht mit Gartenarbeit. Er beschäftigte sich selbst, frönte dem Klavierspiel, zog sich meistenteils in seine Räume zurück.
Schreber glaubte sich durch seine Nervenenden mit Gott verbunden und war im Begriff, sich mittels einer durch seine Nervenbahnen gesendeten Kraft in ein Weib zu verwandeln. Da seine eigene Frau sich nach einer Reihe von Fehlgeburten als untauglich erwiesen hatte, die Nachkommenschaft der Familie zu sichern, sah Schreber sich gezwungen, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, sich von Gottes Strahlen befruchten zu lassen und der Welt ein neues Menschengeschlecht zu schenken. Ein solches Geschlecht zu gewährleisten, hielt er für um so nötiger, als er die Realität der bis dahin vorhandenen Welt und die Echtheit der Menschen, mit denen er umging, in Zweifel zog. Sah er sich doch umgeben von schlecht ausgedachten Männern, nämlich seinen Ärzten, seinen Wärtern, dem Pflegepersonal.