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Schreber betrieb eine Art negativen Sonnenkult. Er sah sich von der Sonne, die Gott vorgelagert war und mit menschlicher Stimme zu ihm sprach, sowohl auserwählt als auch verfolgt. Es war ihm ein Anliegen, vor dem Sonnenschein, der in sein Zimmer drang, unauffällig auszuweichen. Er begab sich an die jeweils verschattete Wand, aber die Sonne änderte ihren Lauf, kam von unmöglicher Seite, stürzte sich noch in der dunkelsten Ecke auf ihn.

Schreber wurde trotz modernster Methoden nicht geheilt. Sein Wahnsystem existierte parallel zu den angenehmen Umgangsformen, den guten Manieren, dem brillanten Verstand des Senatspräsidenten, und schließlich wurde dieser als geschäftsfähig entlassen, das Projekt des neuen Menschen vorläufig verschoben, einer ungewissen Zukunft anvertraut.

Beim architektonischen Komplex Sonnenstein handelte es sich um die Gebäude der ehemaligen Vernichtungsanstalt, die ihre Arbeit zu dem Zeitpunkt aufnahm, da die Heilanstalt geschlossen wurde.

In den Räumen des Paralytikerhauses richtete der Direktor erste Gaskammern ein. Patienten, deren Krankheit einen chronischen Verlauf nahm, wurden aus der aufgelösten Heilanstalt nicht entlassen, sondern direkt den Gaskammern zugeführt. Dort starben in den Jahren 1940 und 1941 etwa 15 000 Menschen. Geisteskranke und Behinderte, mißgebildete und mongoloide Kinder, auch Soldaten, die aufgrund ihres Kriegseinsatzes an einem Nervenleiden erkrankten, konnten ihres Lebens nicht mehr sicher sein.

Sowohl der Direktor als auch das Prinzip der Vergasung wanderten nach zwei Jahren in die Konzentrationslager ab. Während man erste KZ-Häftlinge zunächst auf dem Sonnenstein ermordet hatte, wurden die Gaskammern, die hier erprobt worden waren, in großem Stil dann andernorts nachgebaut.

Der Leiter des Sonnensteins führte später im Konzentrationslager Auschwitz medizinische Experimente durch. Er sterilisierte Frauen und Männer mit Röntgenstrahlen, doch die Versuche mißlangen. Die Behandelten erlitten schwere Verbrennungen, die Organe entzündeten sich, viele starben qualvoll an den Folgen. Strahlen, von denen sich Schreber noch befruchtet wähnte, erwiesen sich nicht als geeignetes Mittel für Unfruchtbarkeit.

Es gibt Orte, an denen sich nur Unglückliche einfinden. Orte, an denen sich das Unglück festgesetzt hat, Orte, die es auf alle übertragen, die sich dort aufhalten.

Der architektonische Komplex Sonnenstein diente nach dem Ende der Krankenmorde als Reichsverwaltungsschule und Reservelazarett. Wenn wir davon ausgehen, daß auch die Zöglinge der Reichsverwaltungsschule unter psychischen Deformationen litten, wenn wir bereit sind, auch diese Deformationen als Verwundungen zu betrachten, so kann zusammenfassend gesagt werden, daß der Sonnenstein immer ein Ort der Versehrten war. Ein Ort, an dem sich das Grauen jener Gesellschaft kristallisierte.

Beim architektonischen Komplex Sonnenstein handelte es sich um Gebäude, die die Rote Armee als Truppenunterkunft genutzt und nach ihrer Befreiungsarbeit weitgehend zerstört hatte. War es ihnen mit dieser Zerstörung gelungen, den Fluch aus den Mauern zu vertreiben?

Elektrische Leitungen waren gekappt, Lampen von der Wand gerissen, Möbel verfeuert. Türen fehlten, Wasserrohre waren gebrochen. Hunderte Fensterscheiben mußten neu eingezogen werden, die Heizung erneuert, die Sanitäranlagen wiederhergestellt.

Hierher kamen Johannes und Sidonia Janich als Kriegswaisen. Vom Übernahmepunkt am Bahnhof brachte man sie hierher, ins Auffanglager.

Beim architektonischen Komplex Sonnenstein handelte es sich jetzt um eine Durchgangsstation für die Vertriebenen, eine Sammelstelle für menschliches Strandgut, um einen Umschlagspunkt für Umsiedler.

Am Bahnhofsvorplatz hatte man provisorische Toilettenanlagen errichtet und schon dort eine erste Desinfektion vorgenommen. Die Neuankömmlinge erhielten ein Stück Brot vom Roten Kreuz, das sie sofort aßen. Dann bewegte sich die Menschenmenge den Berg hinauf zu den Unterkünften: großzügige und solide Nebengebäude des Schlosses, vor denen es einstmals gepflegte Rasenflächen gegeben haben mußte, Rasenflächen, die jetzt von den durchreisenden Massen so zertrampelt waren, daß kein Halm mehr wuchs. Nur juniheller Staub, der sich auf die Schuhe legte, sofern man noch Schuhe besaß.

Die Geschwister wurden in eine düstere Halle im Erdgeschoß geführt. Obwohl es Sommer war, herrschte in dieser Halle eine höhlenhafte Kälte. Sie wurden aufgefordert, ihre Kleider abzulegen, sich splitternackt auf ein Brett zu stellen. Jemand sprühte ihre Haare mit einer weißlichen Flüssigkeit ein, hieß sie so lange stehenzubleiben, bis die Masse eingetrocknet war. Sie standen barfuß auf dem Brett, krümmten die Zehen. Dunkel atmende Statuen, die nicht wagten, sich zu rühren. Magere Kinder mit vorstehendem Brustkorb, die zitternd mit den Wänden verschmolzen. Vorpubertäre Kinder mit schneeweißem Haar.

Dann führte man sie in die Waschräume, ließ sie sich waschen. Auf dem Umsiedlerpaß wurde der Name Janich, Johannes eingetragen und auf der Gesundheitsbescheinigung die erste Entlausung vermerkt. Er wurde gegen Typhus und Paratyphus geimpft. Er bekam eine Essenskarte für die 27. Kalenderwoche, in der schon zweimal Essen durchgestrichen war, weil man am Tag seiner Ankunft den Dienstag schrieb, und er bekam einen Schlafplatz. Damit begann die zweiwöchige Quarantäne.

Er stand unter freiem Himmel in der Schlange an der Essensausgabe, eine Frau überstempelte auf seiner Essenskarte das maschinengetippte Wort Essen, sie machte es mit violetter Stempelfarbe unkenntlich. Eine andere füllte ihm mit triefender Kelle einen Napf voll Haferschleim. Er nahm den Suppennapf entgegen und balancierte ihn zu den Tischen. Er blickte in die trübe Flüssigkeit, Spreu vor verhangenem Himmel, er blickte noch einmal hinein, eine Suppe, in der die Sonne schwamm. Wieder und wieder holte er Suppe, wäßrig und mehlig, wie vorverdaut. Mal trieben Spelzen in ihr, mal schwarzes Geäst aus dem Park, meist aber, wie ein blendendes Spiegelei, das Zentralgestirn.

Sidonia war in der Lagerküche beschäftigt, sie half beim Kartoffelschälen. Hier und da gelang es ihr, heimlich ein paar Kartoffeln, ein zusätzliches Stück Brot für ihren Bruder abzuzweigen. Aber dem Bruder ging es nicht gut, er aß nichts mehr.

Johannes erkrankte schwer. Er hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen und kam ins Lazarett. Er wurde isoliert; seine Schwester durfte nicht mehr zu ihm. Sein Zustand verschlechterte sich. Er delirierte.

Sein wiederkehrender Alptraum, in welchem er auf Strümpfen einen düsteren Keller durchquert: Der Boden ist naß, voller Schmutz und Pfützen, und seine Strümpfe saugen das Wasser auf und werden dunkler, in den Füßen zieht die Kälte hoch, die aus den zerbrochenen Fliesen steigt, und ihm kommt es vor, als vermische sich sein Körper auf diese Weise mit der heruntergekommenen Materie, er wird Wasser, er wird Fliese, er wird Schutt.

Einflüsse des Schlosses: Im Wachzustand war die Ausstrahlung dieses Ortes noch stärker zu spüren. Die Etappen der Geschichte stiegen aus dem Gemäuer, drangen in ihn ein. Er war empfindlich geworden. Strahlen tasteten ihn ab, griffen ihn an, ihre Berührung schmerzte.

Man hatte ihn von seinem Strohsack im Gemeinschaftsschlafsaal geholt und in ein Gitterbett gelegt. Wenn er wach war, fuhren seine Hände unruhig herum, pflückte er Flusen von seiner Wolldecke ab. Am späten Vormittag erreichte die Sonne sein Bett und zerschnitt die Wolldecke in einen hellen und einen dunkleren Teil. Er fürchtete, daß auch er durchgeschnitten würde, daß er sich wie ein Regenwurm verdoppeln müßte.

Mittags sah er zwei Sonnen auf einmal am Himmel stehen und wußte nicht, welche die echte war. Abends verschwanden die Sonnen eine nach der andern im Schacht. Johannes schlief inmitten von Zeitstrahlen, schlief wie Schreber den Strahlenschlaf, die Sonne des Sonnensteins kam von allen Seiten. Tagsüber sah er die Menschen, die ihn versorgten, von einer Strahlenkrone umspielt.