Ein endloser, ein auf einen Punkt zusammengeschnurrter Sommer, der für Johannes darin bestand, durch sein Fenster hinaus auf die Sonne zu starren, die Sonne: ein haariges Spinnentier, das über den Himmel kroch.
Ein heimatloser, ein unheimlicher Sommer, der für Sidonia darin bestand, Kartoffeln zu schälen und aus den Fenstern der Schloßküche hinab auf den Fluß zu blicken, auf die Elbe kurz vor Dresden, die Elbe ein Stück hinter Böhmen, auf den Fluß zu blicken, zuzusehen, wie die Zeit verstrich.
Als die Kinder verlegt wurden, frei von ansteckenden Krankheiten, verpflegt bis einschließlich, dreimal entlaust, war Johannes Janich nicht marschfähig. Sidonia befand sich bereits am Sammelpunkt, die Essenskarten waren durchgehend abgestempelt, die Quarantänebescheinigungen vollständig ausgefüllt. Die andern drängelten, kramten in ihrem dürftigen Gepäck, nur ihr Bruder Johannes fehlte. Ihr wurde klar, daß er verlorengehen würde, wenn sie ihn allein ließ. Sie löste sich aus der Formation, rannte zurück.
Wir wissen, daß Johannes Janich nach einem kurzen Sommer weitertransportiert wurde, noch immer fiebernd, auf einem offenen Lastwagen liegend, wissen, daß Sidonia ihn in letzter Minute von der Krankenstation holte, ihn anzog und mitnahm in die Baracken des nächsten Lagers, wo der restliche Sommer verrann und der Herbst zerrieselte, Name, geboren, bisheriger Wohnort, wo der Herbst zerfiel in Ausweise und Kleiderlisten, 1 Paar Schuhe, 1 Anzug, 1 Paar Handschuhe, 1 Hemd, wo der Herbst verging, bis sie kurz vor Weihnachten das Rheinland erreichten.
Johannes Janich wuchs bei entfernten Verwandten auf, er wurde Berufsschullehrer mit den Fächern Technik und Mathematik, er heiratete Hiltrud Wagner, eine rheinische Frohnatur von praktischer, zupackender Frömmigkeit, die er Trudchen nannte, er baute sich ein Haus im Vorgebirge, legte einen Garten mit Obstbäumen und Gemüsebeeten an, er besuchte jedes Wochenende seine Schwester, die als Haushälterin eines geistlichen Herrn in Köln lebte, er zeugte zwei Kinder, Mila und mich.
Auch der Name meiner Schwester hängt mit dem Sonnenstein zusammen. Schwester Mila, so hieß die Krankenschwester, der unser Vater seine Genesung, also sein Leben verdankt. Sie nahm ihn auf dem Höhepunkt seiner Krankheit in ihre Privatwohnung auf. Zog die Vorhänge zu. Wachte über ihn in den Nächten, in denen er fieberte, wischte ihm den Schweiß ab, flößte ihm Tee ein, machte ihm Wadenwickel. Blieb bei ihm in der entscheidenden Nacht, die er überstehen mußte. Blieb bei ihm, als er mit dem Tod rang, den er in dieser, der schlimmsten Nacht, dank ihrer Hilfe, Pflege und Fürsorge schließlich besiegte. Sie kam aus dem Sudetenland: Mila, die Liebe. Mit dieser Namensgebung setzte sich unser Vater über den katholischen Heiligenkalender hinweg. Sonst hätte meine Schwester, wie ich, einen altmodischeren Namen tragen müssen, Elisabeth, oder Barbara, oder, passend zu Altfried, vielleicht Friederike.
Meiner Schwester ist mit diesem Namen eine geheime Sehnsucht nach Osteuropa in die Wiege gelegt worden, eine Neigung, die ich nicht teile.
Ich kann dem Osten Europas nichts abgewinnen. Aber ich konkurriere mit Mila um den Sonnenstein. Durch ihre Namensbindung ist sie natürlich im Vorteil. Jedoch legt meine gegenwärtige Position als Arzt einer Heilanstalt, und diese ausgerechnet in einem Schloß im Osten, die Vermutung nahe, daß auch ich an Schloß Sonnenstein anknüpfen möchte. Ich schließe daran an, nahtlos an diese Jahre an im Guten wie im Bösen, ich bemühe mich um Heilung, selbstverständlich kommt sie zu spät, Heilung im nachhinein, besser als nichts, aber das Geschehene ist nicht ungeschehen zu machen, ich schließe an Schloß Sonnenstein an und versage, ich kann nichts mehr tun. Ich sitze im Schloß, lade mir Tag um Tag Tatenlosigkeit auf, sitze untätig herum, ich bilde mir ein, ich nehme Schuld auf mich.
21 Weiße Maulbeeren
Es waren lose hingeworfene Wiesen, an denen sich keine Erinnerung festmachen ließ. Es war ein leerer Marktplatz, kaum Menschen, kaum Fahrzeuge, es war die Maßlosigkeit eines verwachsenen Grundstücks, das überall hätte sein können und unser Gefühl von Heimatlosigkeit verstärkte. Es war ein Sehnsuchtsort, ein Ort, der von vornherein unerreichbar blieb.
Die Peinlichkeiten der Reise nach Polen begannen bereits vor der Abfahrt. Wir saßen schon im Bus, Mila am Fenster, neben ihr Tante Sidonia, ich auf dem Platz auf der anderen Seite des Gangs. Unser sperriges Bündel ragte über mir aus dem Gepäcknetz. In diesem Bündel aus einem alten geblümten Vorhang hatte Tante Sidonia notdürftig das Kreuz verstaut, das sie am Ziel unserer Reise im Garten fremder Leute aufzustellen gedachte. Ich zog die Arme an mich und drückte die Knie zusammen, um meinen Sitznachbarn, einen zarten älteren Herrn mit wuchtigem Schnurrbart, nicht einzuengen.
Der Reiseleiter trat ans Mikrofon, durch den Bus schepperten Begrüßungsworte, dann forderte er uns auf, unsere Pässe hervorzuholen, die er einsammeln und an der Grenze gebündelt vorlegen wollte. Tante Sidonia kramte stumm in ihrer Tasche. Mila schlug vor, Sidonias Koffer zu öffnen, der sich zuunterst im Gepäckraum befand, weil wir, beflissen, überpünktlich, bei den ersten gewesen waren, die sich eingefunden hatten. Tante Sidonia schüttelte den Kopf und suchte sinnlos weiter. Sie zog den abgegriffenen Brustbeutel unter ihrer Bluse hervor, den niemand hätte zu Gesicht bekommen dürfen, sie betastete verstohlen ihren Bauch unterhalb des Rockbundes, wo sie sich als eiserne Reserve einige Geldscheine in die Wäsche eingenäht hatte, der Paß war nicht da.
Die Reise nach Polen begann damit, daß ich durch das morgendlich gestaute Köln raste. Ich joggte zur Straßenbahn, fuhr drei Stationen zu Tante Sidonias Wohnung, hetzte die Treppen hoch, zog alle Schubladen auf, fand den Paß schließlich auf dem Wohnzimmertisch neben einem Brotkanten, den Tante Sidonia über Nacht mit einem Küchentuch bedeckt hatte. Ich griff den Paß und auch das Brot, zwang mich, wieder sorgfältig abzuschließen, erreichte schweißgebadet den Bus. Die Reisegruppe gab offenbar schon seit geraumer Zeit ihrem Unmut Ausdruck, worauf warten wir eigentlich, da kommt er ja endlich, der Fette ist zu spät, viel zu spät, rücksichtslos, wir sind auch alle früh aufgestanden, aber er sieht ja schon aus wie eine Extrawurst. Tante Sidonia saß mit versteinerter Miene am Fenster, ihr Kinn zitterte, meine Schwester hielt ihre Hand.
Unser Vater hatte sich geweigert, an dieser Reise teilzunehmen. Es hat uns ein für allemal gereicht, sagte er kategorisch, niemals wieder wollen wir dorthin, und mit diesem Wir verwirrte er uns, denn wie selbstverständlich bezog er Tante Sidonia in seine Aussagen mit ein, obgleich es diese gewesen war, die den Wunsch zu der Reise geäußert hatte. Und da sie auf diesem Wunsch beharrte, blieb es an Mila und mir hängen, sie zu begleiten.
Unsere Tante hatte die Reise von langer Hand vorbereitet. Sie hatte mit den Reisebussen der vergangenen Jahre Kundschafter vorausgesandt, die Kontakte knüpften und im Ort die alte Frau Clara auffanden, die nach dem Krieg dortgeblieben war und übersetzen konnte. Unsere Tante hatte mit Hilfe von Claras Sprachkenntnissen Briefe gewechselt, sie hatte regelmäßig Pakete mit Hilfsgütern in jenes Haus geschickt, das ehemals ihres gewesen war. Sie schickte nie Geld, sie schickte stets Sachwerte. Einmal hatte man von ihr sogar eine Waschmaschine erbeten und postwendend erhalten. Geld konnten fremde Leute zu einfach verpulvern. Bei Gegenständen glaubte sie die Kontrolle darüber zu behalten, daß sie mit dem, was sie sich selbst vom Mund absparte, Nutzen brachte. Den Briefen entnahm sie, daß man ihr dankbar war; daß man sie schätzte und liebte, sie einlud zu kommen.
Liebe Frau Justyna,
wir kommen am Donnerstag, 4. August mit dem Kreuz. Wir möchten es im Garten aufstellen, dort, wo sich das Grab befindet. Es wäre gut, wenn Ihr Mann an diesem Tag zugegen wäre und uns helfen könnte.