Liebe Frau Sidonia,
wir können Ihnen ein schönes Kreuz schmieden lassen, mit Eisenrosen und geschwungenen Blättern. Warum wollen Sie es so weit transportieren. Es ist hier billiger als in Deutschland.
Liebe Frau Justyna,
lassen Sie das bitte mit dem Kreuz. Eisen kommt nicht in Frage. Das rostet doch sofort. Wir benötigen etwas Haltbares, und es soll auch nicht verschnörkelt sein, sondern schlicht, wir brauchen keinen überflüssigen Zierat. Ich habe in Köln ein Kreuz anfertigen lassen, es ist aus Lindenholz. Wir bringen es mit. Wichtig ist, daß es an der richtigen Stelle plaziert werden kann.
Liebe Frau Sidonia,
wo befindet sich die richtige Stelle? Unser Garten ist groß. Der Rasen wächst hoch, alles verwildert. Wir besitzen keine Mähmaschine, wir müssen mit der Sense mähen. Es ist zuviel Arbeit. Aber wenn Sie kommen, bereiten wir die Wiese vor, wenn Sie kommen, wird alles schön sein.
Liebe Frau Justyna,
machen Sie sich bitte keine Umstände. Sie brauchen für uns nichts vorzubereiten. Wir trinken keinen Kaffee (meine Nichte wird davon nervös), wir mögen keinen Kuchen (mein Neffe ist gegen alles allergisch), und wir wollen auch nicht lange bleiben. Es wäre aber angenehm, wenn wir das Haus besichtigen könnten, die Zimmer, den Dachboden, den Anbau und natürlich den Garten.
Das Busunternehmen, das meine Tante gewählt hatte, führte regelmäßig Heimwehreisen nach Schlesien durch. Der Bus steuerte touristisch markante Punkte an, in den größeren Orten wurde übernachtet, und wer wollte, konnte von dort aus sein Heimatdorf, seine Kleinstadt aufsuchen.
Wir machen alles mit, hatte Tante Sidonia verkündet, was Mila mit einem verzerrten Grinsen quittierte, und folgsam machten wir alles mit, wir besichtigten Städte und Naturdenkmäler, trotteten durch Kirchen und Museen, während sich einzelne Mitglieder der Gruppe jeweils absetzten und ihre persönlichen Interessen verfolgten, Unruhe auslösten, Eifersucht. Aber schließlich war die Reihe an uns.
Das private Taxi, das von der Reiseleitung für uns organisiert worden war, hatte uns bis zur Hauptstraße gebracht. Der Fahrer würde uns hier in einigen Stunden auch wieder abholen.
Ich trug das Bündel mit dem Kreuz über der Schulter, außerdem klemmte mir der Karton mit dem Waffeleisen unter dem Arm, das wir in einem kleinen Elektrogeschäft neben unserem Hotel am Marktplatz erworben hatten, weil Justyna sich ein Waffeleisen wünschte. Ich schwitzte stark. Wir gingen sehr langsam, der Weg zog sich hin. Wir folgten im Gänsemarsch der alten Clara, die in Schlappen über den schmalen Bürgersteig schlich. Mila trug in Sidonias Einkaufsbeutel Schokoladentafeln, die während der Fahrt auf dem Sitz in der Sonne gelegen hatten. Sie sind alle angeschmolzen, flüsterte Mila mir zu. Sie hätten sich verformt. Es sei ihr unangenehm, sie zu überreichen, ich möge es tun. Tante Sidonia trug in der Handtasche einen Gummihammer, weil sie sich nicht sicher war, ob Karol, der Mann von Justyna, einen solchen besaß.
Justyna erwartete uns am Zaun. Drei kleine Kinder hingen an ihr und rannten ins Haus, als wir uns näherten. Sie trug eine Schürze über einer Trainingshose, ihr blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sie schob mit dem Fuß zwei triefnasige Kätzchen zur Seite, die auf den warmen Steinen des Gartenwegs spielten. Justyna machte sich, kaum daß wir drinnen Platz genommen hatten, in der Küche zu schaffen, trug Gebäckteller herein, rückte eine Warmhaltekanne zurecht. Tante Sidonia hatte sich nur pro forma hingesetzt, sprang sofort wieder auf und schnüffelte durch das Zimmer. Unser Kachelofen, rief sie enthusiastisch. Unsere Tapete! Nichts hat sich verändert!
Meine Schwester nippte am Kaffee, wand sich, als ich begann, die Schokoladentafeln an die Kinder zu verteilen, und flüchtete in den Garten. Ich überreichte das Waffeleisen, ich sprach dem Schmalzgebäck zu.
Justyna führte unsere Tante durch das Haus. Sie erörterte, wie ihre Eltern nach dem Krieg aus Ostpolen, das an Rußland gefallen war, vertrieben und hierhin umgesiedelt worden waren, sich in diesem Haus aber nie heimisch gefühlt, nie etwas erneuert, im Grunde nichts angerührt hatten, weil sie immer in der Erwartung gelebt hätten, eines Tages wieder wegzumüssen. Ihr selbst fehlten, sagte sie, die Mittel, substantiell etwas am Haus zu tun.
Sidonia nickte verständnisvoll, und ich fragte mich, ob sie so weit gehen würde, Justyna Wandfarbe zu schicken, ob sie es verantworten wollte, daß Justyna die Tapete, die ihr eigener, Sidonias Vater aufgeklebt hatte, schließlich abriß oder überstrich.
Ich mußte das Plumpsklo im Anbau aufsuchen und war überrascht, daß es dort ausschließlich nach warmem Fichtenholz roch. Neben ein Bündel aus zurechtgeschnittenen Zeitungsblättern hatte Justyna eine neue graue steifpapierene Klopapierrolle gestellt, die ich nicht anzubrechen wagte. Ich streute eine Schaufel Sägemehl in die Öffnung, zufrieden, daß ich den Vorgang bewältigte, aber ohne daß er etwas in mir auslöste, was Wehmut hätte sein können, ohne daß er mir auch nur im geringsten bekannt vorkam. Kein früheres Leben, keine subkutane Weitergabe von elterlichen Erinnerungen, nicht einmal ein Wiedererkennen aus Fernsehen und Film.
Meine Erinnerungen an diese Reise sind zu großen Teilen dürftig. In der Therapie unterscheiden wir zwischen dürftigen und üppigen Erinnerungen. Den üppigen wird der Vorzug gegeben. Der Patient ist angehalten, eine Erinnerung möglichst detailfreudig auszustaffieren, sie sich sinnlich zu vergegenwärtigen, um sich diesen verlorenen Teil seines Lebens mit der ganzen gesammelten Großartigkeit seiner Einbildungskraft wieder anzueignen. Eine dürftige Erinnerung kaschiert Verdrängtes. Niemals, so die Theorie, ist das Leben so dürftig wie im nachhinein oft dargestellt. Und eine üppige Erinnerung ist dazu dienlich, aus einem als dürftig empfundenen Leben im nachhinein einen Erfolg zu machen.
Ich für meinen Teil habe hingegen die dürftige Erinnerung schätzen gelernt. Mag ihr therapeutischer Effekt gering sein, sie beläßt das Vergangene im Bereich der Möglichkeiten, legt sich nicht fest.
Ich hatte mir vorgestellt, es gäbe im Garten eine umzäunte Stelle. Ein Rechteck, etwa von der Größe zweier Personen, die nebeneinander liegen, von einem verschnörkelten Gitter eingefaßt, mit Tigerlilien oder Hortensien bepflanzt. Diese Umzäunung war nicht vorhanden, dennoch erinnere ich mich im nachhinein mit Vorliebe an sie, auch an die Tigerlilien, die es nicht gab.
Hinter dem Schuppen, hatte unser Vater gesagt, um den Schuppen herum, und dann seht ihr schon die Stelle.
Neben dem Schuppen, hatte unsere Tante behauptet, einfach dicht am Schuppen, man kann es gar nicht verfehlen, allerdings ist nichts Besonderes zu sehen.
Zunächst waren uns die widersprüchlichen Angaben keineswegs fragwürdig vorgekommen. Ich trug in der Brusttasche den Lageplan, den Tante Sidonia zur Vorbereitung mit violettem Filzstift aufgezeichnet und in Kopie an Justyna geschickt hatte, außerdem das einzige Foto des Anwesens, das sie aus den Kriegswirren gerettet hatte und an dem bisher weniger der Schuppen von Interesse gewesen war als vielmehr die Familie, die vor dem Haus für das Foto posiert. In der Mitte die Großeltern in Korbsesseln, dahinter die Eltern, links das Kindermädchen, rechts der Hund Balthasar, vorne die beiden Kinder in hellen Kittelkleidern. Als älteste Tochter eines Lehrers blickt Tante Sidonia streng, altklug und etwas mürrisch, sie hat diesen Gesichtsausdruck bis heute beibehalten und ihre gouvernantenhafte Art nie abgelegt, hält auf dem Foto aber beschützend die Hand über das Kleinkind mit dem Spitzenkragen, das gerade erst stehen kann und mit unserem Vater keine Ähnlichkeit aufweist. Von dem Schuppen ist nicht viel zu erkennen, weil die Familie alles verdeckt. Ein Stück Wiese, ein Stück Zaun, ein Stück Nachbarsgarten. Ganz am Rand, schon jenseits des Zauns, etwas unscharf Pflanzliches, von dem Tante Sidonia stets, nachdem sie andächtig die Namen aller abgebildeten Personen sowie des Hundes heruntergeleiert hatte, behauptete, das sei der Maulbeerbaum von Sosenpichlers.