Fahr mich nach Hause, sagte sie.
Mila lebte in Berlin, wir allerdings befanden uns in einem Vorort von Köln.
Etwas in ihrem Ton hinderte mich, auch nur eine Frage zu stellen. Mila war die Jüngere von uns beiden, sie hat meine Rolle als älterer Bruder, klüger, erfahrener, niemals in Frage gestellt, im Gegenteil hat sie mich bewundert, obwohl ich nicht hübsch war wie sie, nicht sportlich, nicht im jugendlichen Sinne imposant. Ich war dicklich, vorlaut, ein Eigenbrötler, sie aber hat meine Schwächen nicht gegen mich verwendet, und sie hat es nie für sich ausgenutzt, daß ich sie vergötterte.
Ich fuhr Richtung Autobahn, ich stellte keine Frage, ich rief die Eltern nicht an, mit denen ich den Abend hatte verbringen wollen, ich rechnete mir selbstbetrügerisch aus, daß ich nachts gegen eins zurück sein konnte.
Wir hatten die Trauerfeier als erste verlassen. Wir waren im Pulk der Gäste zum Tor geschwemmt worden, dort hatten wir uns abgesetzt, ich für meinen Teil, ohne mich zu verabschieden, was mir unangenehm war, da Frau Leonberger auf Etikette Wert legte, während die anderen sich auf die schwarzen Wagen verteilten und zu einem nahegelegenen Restaurant fuhren, in das auch ich eingeladen worden war, um dort ein Menü zu mir zu nehmen, das ich später erlesen hätte nennen können, wenn ich Lust gehabt hätte, meiner Chefin von meinem Wochenende zu berichten.
3 Tapeten eines Lebens
Wer von einer Beerdigung kommt, sieht überall Särge.
Wir fuhren durch das erzbischöfliche Köln. Durch das römische Köln, durch das kölsche Köln. Im Innenstadtbereich wurden Kisten umherkutschiert. Ich überholte einen Schrank, der auf offener Ladefläche fuhr. Neben uns an der Ampel hielt ein Transporter mit polnischer Aufschrift, durchgestrichene Ls, zungenbrecherische CZs, für mich keinerlei Hinweis, worin die Ladung bestand. Rostige Waggons eines Güterzugs glitten über den Rhein. Hartnäckig verschlossene Kisten bewegten sich im Straßennetz, Kisten, die sich zu Ketten aneinanderreihten, die sich in langen Prozessionen voranbewegten, sich über die Fahrspuren schlängelten, abrissen und sich neu verbanden.
Schon am Mittag überfüllte Abfallkörbe, ein Stapel Pappkartons vor einer Altpapiertonne, ein Koffer, aus dem Kleidung quoll. Verworfene Geschenke, verschnürte Fetische, Reliquien in ihren Behältern. Mieter hockten in ihren Raumkapseln, Flaschen fielen in Glascontainer, Postsendungen in Briefkästen, minimalistische Verstecke.
Auch wir fuhren in einer solchen beklemmenden Kiste, von der wir uns Halt versprachen und Sicherheit.
Ich war in eigenartiger Verfassung, ich wollte auf keinen Fall, daß Mila es bemerkte, die wohl ebenfalls in eigenartiger Verfassung war, sie sprach nicht, sie starrte geradeaus, Kistenträume. Odilo war mein erster Toter, nicht der erste Verstorbene, den ich gekannt hatte, aber der erste Verstorbene in meinem Alter, erst jetzt, sagte ich mir, war in meinem Leben ein Einschnitt gemacht, der erste Tote aus meiner Generation, es mußte mich daher betreffen, mir Mahnung sein oder Stimulans. Natürlich kam mir mein Leben verfehlt vor, so gehörte es sich nach einer Beerdigung, Rückschau und Buße, natürlich fühlte ich mich verdammt dazu, ein enttäuschender Inhalt in einer enttäuschenden Verpackung zu sein.
Ich hatte mein Leben damit verbracht, in Kisten zu sitzen, lebendig begraben in schön ausgekleideten Kisten, den Blick auf Tapeten gerichtet. Ich habe Tapeten angestarrt, auch rohe Wände, aber meistens Tapeten, ich habe mich auf die Wandverkleidungen konzentriert, als könnte ich so besser erfassen, was sich zwischen diesen Wänden ereignete.
Rauhfasertapete
Klinisch weiß, nahm sie das Leben in der Klinik vorweg. Ich bewohnte ein 12-qm-Zimmer in einem Studentenwohnheim, das an einen Friedhof mit altem Baumbestand grenzte und immer im Schatten blieb. Mein Zimmer war im Erdgeschoß gelegen, und ich blickte, wenn ich von den Büchern aufsah, auf einen Rhododendronbusch, der das wenige Tageslicht, welches die Bäume noch durchließen, schluckte.
Das Weiß der Tapete setzte dem wenig entgegen. Es war angegraut von den Ausdünstungen disziplinierter Medizinstudenten, viele von ihnen aus China oder dem Iran, die keine Zeit verschwendeten, die keine Freizeit kannten. Der Reiskocher in der Gemeinschaftsküche. Die Dusche auf dem Flur. Ich wusch mich am Waschbecken in meinem Zimmer. Vor diesem Waschbecken erlernte ich den Gebrauch des Waschlappens, den ich seit Kindheitstagen nicht mehr benutzt hatte, neu, ich lernte den Waschlappen zu schätzen, er machte mich unabhängig. Ich hatte es nicht nötig, im Bademantel über den Flur zu laufen, zufälligen Blicken ausgesetzt, ich kam nicht in die Verlegenheit, fremde Haare in den Abfluß brausen zu müssen. Ich fuhr am Wochenende zu unseren Eltern, um zu duschen, ich saß mit ihnen auf der Terrasse und aß Kirschkuchen, während die Waschmaschine im Keller meine Wäsche schleuderte, ich brachte ausgelesene Bücher mit und lagerte sie in meinem Jugendzimmer, ich nahm jede Woche ein Glas selbstgekochte Marmelade mit zurück.
Die Rauhfasertapete war durchstochen. Sie trug unzählige Stecknadelspuren von Vorgängern, die sich ihre Klause mit Kalendern und Kunstdrucken geschmückt hatten. Ich hängte nichts auf, mich elektrisierte vielmehr die Kargheit, ich konzentrierte mich auf die Erhebungen der Tapete, schiefe Perlen, über die ich die Finger gedankenverloren gleiten ließ, Noppen, die Körperkontakt erforderten, die mich zu unwillkürlichen Kerbungen mit dem Fingernagel verleiteten, ich stellte Kerbtiere aus Perlen her, Käfer, die massenhaft auf den Wänden wimmelten, wahnhafte Käfer, mit denen ich mich professionell zu befassen begann.
Ich als der Ältere habe die Nachkriegssparsamkeit unserer Eltern geerbt. Meine Schwester ist davon schon nicht mehr betroffen, sie hat zu Geld ein vernünftiges Verhältnis, sie gibt es aus, ohne dabei zu übertreiben. Ich hingegen drehe auch heute noch jede Münze dreimal um, obwohl dies in Anbetracht meines Gehalts nicht erforderlich ist und obwohl mir klar ist, daß dieser Automatismus vor allem bei geringfügigen Summen einsetzt, während ich größere Beträge wesentlich lässiger behandele, als verlöre ich dort den Überblick, als sei in solchen Dimensionen jede Realität überschritten und bräuchte nicht mehr berücksichtigt zu werden, als sei mir in Geldangelegenheiten ab einem gewissen Punkt plötzlich alles egal.
Damals allerdings verfügte ich über wenig Geld und schränkte mich ein. Ich frühstückte in Wasser gekochte Haferflocken mit einer Prise Salz und einem Löffel Zucker. Ich nannte diese Speise großspurig Porridge. Abends bereitete ich mir in der Gemeinschaftsküche Spaghetti mit einer Sauce aus Zwiebeln und Tomatenmark zu, Spaghetti al pomodoro e cipolla, ein klassisches Gericht, mit dem ich die reiskochenden Flurnachbarn allabendlich beeindruckte. Ich benutzte Teebeutel mehrmals hintereinander, bis sich die Flüssigkeit nicht mehr nennenswert färbte, ich verlängerte Mineralwasser mit Leitungswasser. Ich darbte nicht, im Gegenteil, ich nahm zu.
Bereits im ersten Semester hatte sich mein Verhältnis zu meiner Finanzsituation in eine Art sportlichen Ehrgeiz verwandelt, der sich darauf belief, die Ressourcen optimal zu nutzen. Die Heizkosten waren in der Zimmermiete inbegriffen, daher war ich nie gezwungen, mit Schal und Handschuhen am Schreibtisch zu sitzen, wie ich es von Kommilitonen hörte, die sich andernorts eingemietet hatten. Ich sparte nicht an Büchern, ich sparte in unserer Stadt allerdings an öffentlichen Verkehrsmitteln und fuhr bei jedem Wetter mit dem Rad. In der Kölner Bucht regnete es oft.
Diese Lebensweise behielt ich bei, als ich ein Begabtenstipendium der Studienstiftung erhielt. Ich führte mein bescheidenes Leben weiter und kaufte mir einen Kleinwagen. Ich begann, Erlkönige zu jagen.
Historische Makulaturtapete
Es waren die Jahre, in denen ich, einem äußerst gedrängten Stundenplan folgend, auf meinem Weg zu den Lehrveranstaltungen die immer gleichen Stadtstraßen abfuhr, Straßen mit überladenen Fassaden im Zuckerbäckerstil, Straßen, die mich mit ihrer adretten Häuslichkeit, ihrer Versuchsküchenhaftigkeit, ihrer Schulkochbuchmäßigkeit verseuchten, Jahre, in denen ich täglich am letzten Domizil des irre gewordenen Musikers Schumann vorbeikam, der Heilanstalt Endenich. Für einen angehenden Psychiater schien mir das ein Omen, wenn ich auch nicht sicher war, wofür. Meine künftige Tätigkeit kam mir angesichts der dürftigen Heilerfolge bei Geisteskrankheiten damals oft drückend und überflüssig vor. Robert Schumann, Ludwig van Beethoven, Friedrich Nietzsche — alle fähigen Personen, die mit Bonn in Kontakt kamen, endeten bekanntlich in völliger Zerrüttung.