Er schlief nicht mehr, während meine Schwester immer mehr schlief, als müsse sie ihre Energie aus höheren Sphären ziehen. Tagsüber ging sie umher wie in Trance. Er weckte sie nicht mehr so oft, er durchquerte nachts den Park, marschierte zum dunklen Brunnenhaus, hielt im kalten Himmel nach Sternschnuppen Ausschau.
Als er zurückkehrte, betrachtete er lange, wie sie sich in die Decken eingerollt hatte, streichelte ihre Strickjacke, die über der Stuhllehne hing, ließ die Perlknöpfe durch die Finger gleiten.
Im Halbschlaf beobachtete sie, wie er sich leise auszog, sich neben sie legte. Sie beobachtete ihn mit geschlossenen Augen, lauschte auf jedes kleinste Geräusch, beobachtete ihn mit dem ganzen Körper, horchte mit der Haut. Sie wartete darauf, daß er sie mit schüchternen Berührungen zu wecken suchte.
Danach versuchte er, als erster einzuschlafen. Sie mußte ihm versprechen, wach zu bleiben; solange wach zu bleiben, bis sie hörte, daß sein Atem gleichmäßiger ging.
Er schlief ein, und sie drehte sich zur Seite.
Kurz darauf, es schien ihr kurz, sie war gerade erst weggedämmert, küßte er sie wieder wach. Seine Augen weit aufgerissen und starr, er sah sie und sah sie nicht. Seine Bewegungen routiniert, und doch auf eine erschreckende Art ungelenk. Er griff nach ihr und griff daneben, tastete nicht im Dunkeln, tastete nicht wie blind, sondern griff ganz selbstverständlich nach ihr, griff neben sie und knetete die Bettdecke. Erst wollte sie seine Hand nehmen und an die richtige Stelle führen, aber dann kam sie ihm entgegen, rückte dorthin, wo er seltsam mechanisch weiterknetete, als sei sein Körper nicht imstande, einen einmal begonnenen Bewegungsablauf zu stoppen.
Erst als er sich wegdrehte, begriff sie, daß er schlief. Noch immer schlief, daß er die ganze Zeit geschlafen hatte, aufgerissenen Auges.
Sie sprach ihn am Morgen nicht darauf an, nicht beim Frühstück in der Gaststube mit Schlesischen Würsten und hohen Blechkuchenwürfeln, nicht während sie den Mantel anzog, den Hut aufsetzte, sich das Haar an den Schläfen zurechtstrich zum Gang durch den Ort, zum Jungbrunnen, wie sie es scherzhaft nannten; sie bat ihn nicht, mitzukommen.
IV Splendor
23 Die Folgen — Fallgeschichten 2
Ruhekissen
Niemand hat begriffen, wie es ihm gelang, die Schwangerschaften vollständig zu übersehen. Sie war nicht gertenschlank, von daher konnte ein weiter Pullover einiges kaschieren. Daß die Nachbarn keine besonderen Veränderungen bemerkten, läßt sich erklären oder zumindest ertragen. Den Eltern und Schwiegereltern, zu denen regelmäßiger Kontakt bestand, die sie am Wochenende besuchte, mit denen sie täglich telefonierte, hätte etwas auffallen müssen. Selbst wenn sie keine Notwendigkeit sahen, den sehr veränderlichen Körperumfang ihrer Tochter oder Schwiegertochter zu kommentieren, wenn sie es vorzogen, an Diäten und gescheiterte Diäten, an ein immerwährendes Diätprogramm und den Jo-Jo-Effekt zu glauben, gibt es doch in einer solchen Situation auch etwas, was über den Augenschein hinausgeht, einen psychischen Ausnahmezustand, einen weiteren, wenn auch ungeborenen, Menschen im Wohnzimmer, dessen Anwesenheit man verdrängt. Doch auch diejenigen Personen, mit denen sie auf engstem Raum in einer kleinen Mietwohnung zusammenlebte, die beiden pubertierenden Söhne, der Kindsvater, wollen nichts gesehen und auch nichts gespürt haben, kein verändertes Verhalten, kein morgendliches Erbrechen im Bad, kein stumpfer werdendes Haar, kein verbessertes Hautbild. Von pubertierenden Söhnen wird man eine solche Aufmerksamkeit nicht unbedingt erwarten, sie sind in diesem Alter mit sich selbst beschäftigt. Oliver Weichhals jedoch, der Erzeuger dieser Söhne, versetzte durch seine Fähigkeit, die eigene Frau aus seinem Bewußtsein auszublenden, auch die Fachwelt in Erstaunen. Zu seiner Entschuldigung wird angeführt, er sei berufsbedingt die meiste Zeit abwesend gewesen. Allerdings hielt er sich, von der meisten Zeit einmal abgesehen, die übrige Zeit in der gemeinsamen Mietwohnung auf. Er betrat nach einigen durchgehenden Arbeitstagen, an denen er auswärts übernachtete, die heimatliche Wohnung, die beengt war, dünnwandig, eine pappwandige Wohnung, die dazu zwang, innere Wände hochzuziehen als Ersatz, die ihre Bewohner zu akustischer Abstumpfung nötigte, ihr Revierverhalten irritierte. Er kam in der Dämmerung nach Hause, den Schlüssel kämpferisch vorgestreckt, er stieß ihn ins Schloß, markierte die Garderobe mit seinem Mantel, besetzte die Couch, scheuchte die Söhne vom Fernseher weg in ihr Zimmer. Die Söhne pubertierten in einem winzigen Zimmer mit Etagenbett. Jeder besaß eine Schreibtischhälfte, eine Schrankhälfte, die Lage war erträglich, weil sie sich, wie ihr Vater, die meiste Zeit außer Haus aufhielten. Sportbedingt pflegten sie eine überwiegende Abwesenheit, aber wenn sie, wie jetzt, in der Wohnung waren, wurde Oliver Weichhals sofort nervös. Sein Adamsapfel schnellte vor, er zog die Schultern hoch, ballte die Faust in der Tasche. Seine Ehefrau hantierte in der Küche. Ein Gemüsemesser tackte auf das Plastikbrett, Salatbesteck stieß an die Glasschale, die Dunstabzugshaube heulte. Die Kochgeräusche verschmolzen mit dem Fernsehton, und er blendete alles zusammen aus, horchte darauf, was die Söhne im Pubertätszimmer trieben. Seine Hand hatte sich geöffnet und spielte mit den Kordelfransen, die grüngolden am Couchrand herunterhingen, die aalglatt durch die Finger rannen, eingedreht wie weiche Korkenzieher.
Beim Abendessen trank seine Frau zuviel, er sah weg, sah die voluminösen Vasen an, die auf allen Schränken hockten wie Fetische. Sah auf die sehnigen Hände seiner Söhne, die mit dem Besteck vor ihren Fußballtrikots hantierten, sah schnell auf die Vasen zurück. Er haßte die Vasen, weil seine Frau sie aufgestellt hatte, ohne mit ihm Rücksprache zu halten. Sie besetzten die ganze Wohnung, setzten ihn stillschweigend ins Unrecht. Dabei hatte er sich durchaus nichts vorzuwerfen. Er ertrug die Trunksucht seiner Frau. Er ließ sich nicht anmerken, daß seine Söhne ihn nervten. Ein einziges Mal hatte er, außer sich vor Wut, ihnen die Teller unterm Besteck weggerissen, aber am nächsten Tag aßen sie wieder, als wäre nichts geschehen. Es war ja auch nichts geschehen. Er hatte den Eindruck, daß sein Leben unverändert voranlief, unangenehme Arbeit, unerfreuliches Familienleben, aber er hielt durch, blieb anständig, kam zurecht.
Nach dem Essen hing seine Frau mit glasigen Augen im Stuhl. Die Söhne weigerten sich, den Tisch abzuräumen. Er trug die Teller in die Küche und stellte sie in die Spülmaschine. Er wusch die Töpfe ab, die sich seit der letzten Woche angesammelt hatten, er wischte die Arbeitsflächen, putzte den klebrigen Boden.
Seine Idee der Folgenlosigkeit. Er sorgte für Ordnung, aber er brauchte der Ordnung nur kurz den Rücken zu kehren, sofort war die Unordnung wieder da. Mit ungehöriger Opulenz quoll fauliges Obst aus der Küche, die Wohnung stank nach dem Schweiß Pubertierender, neue Vasen tauchten auf, diesmal im Bad. Er konnte nichts tun. Die Konflikte mußten als solche verweigert werden. Er beharrte strikt auf der Normalität, er weigerte sich, etwas anderes als die Normalität für möglich, ja für denkbar zu halten, das war der einzige Einfluß, den er geltend machen konnte, eine Idee also, eine Denkfigur.
Als die Söhne im Bett lagen, drohte er der Frau wie immer damit, sie zu verlassen, und sie, wie immer, flehte ihn an, um der Kinder willen, um ihretwillen bei ihr zu bleiben. Sie sprach nicht mehr deutlich, sie hatte sich auf seinem Sofa breitgemacht, die Troddeln schaukelten in ihren Kniekehlen, im Pubertätszimmer knarrten die Sprungfedern, er stellte den Fernseher lauter, immer lauter, bis die Nachbarin von unten an die Decke klopfte.
Oliver Weichhals schlief nebenan im Schlafzimmer den Schlaf des Gerechten, während seine Frau im Bad das Kind zur Welt brachte, genauso, wie sie nach den beiden ersten Geburten im Krankenhaus jedes weitere Kind alleine im Badezimmer zur Welt gebracht hatte, es abnabelte, erdrosselte, ertränkte, mit einem Kissen erstickte. Er bemerkte nichts vom Blut, das jede Geburt mit sich bringt, wollte nichts wissen vom Alkohol, den sie zu sich nahm, um zu funktionieren, ohne etwas zu fühlen, um das Blut wegzuwischen ohne Spuren, die Babyleichen in Plastiksäcke zu wickeln und in der Gefriertruhe zu bestatten, Schlagzeile: Mutter aus Eis.