Am nächsten Morgen lag seine Frau verkatert im Bett. Er weckte mürrisch die Söhne, machte ihnen Frühstück, verließ gemeinsam mit ihnen das Haus.
Theorie der Handlung
Bei einer Handlung gilt das Ursache-Wirkungsprinzip. Jemand tut etwas, und das hat Folgen. Sichtbare Folgen, aus eindeutigem Grund. Handlung ist nichts Emotionales, Handlung ist immer etwas Materielles. Etwas muß zutage treten, ein Messer, ein Schimpfwort, ein Geldbetrag, andernfalls bleibt man im Bereich der Spekulation. Ängste, Emotionen, Wünsche, die eine Person einer anderen zuschiebt, Einfühlung und Manipulation, Verführung und Blendung gelten nicht als Tatbestand.
Der Skandal besteht darin, daß die Grenzen der Person verletzlich sind. Daß sie nicht fest sind. Daß der Einfluß von Körper zu Körper weit über die sichtbaren Grenzen hinausgeht. Daß sich Emotionen übertragen können wie die Dämonen, die ausgetrieben wurden und in die Schweine fuhren. Schuld besteht darin, ihnen Raum zu geben, ihnen einen Angriffspunkt zu bieten. Sie einfahren zu lassen. Umgekehrt wird ein Konflikt aus dem Bewußtsein ausgeklammert, damit dieses Bewußtsein seine Contenance nicht verliert. Der Konflikt wird eingekapselt, heimlich verschoben, und er landet beim nächsten, der auf seine Weise versuchen muß, ihn zu leugnen, ihn ungeschehen zu machen.
Oftmals ist es am Ende das schwächste Glied, das handelt, um den unsichtbaren Vorgängen, die jahrelang abliefen, Sichtbarkeit zu verleihen. Eine Maßnahme, um nicht verrückt zu werden. Aber es ist zu spät, an diesem Punkt ist man schon verrückt.
Für diese Menschen sind alle Handlungen nur ein Traum. Ihr Leben verläuft so, daß sie sich nicht gestatten können, es ernst zu nehmen. Es gibt keine Realität für sie. Die Dinge müssen folgenlos bleiben, sonst sind sie nicht auszuhalten. Mit jeder Tat setzen sie das Kausalgefüge, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung außer Kraft. Weil sie überzeugt sind, daß es ihn nicht geben darf. Diese Menschen können nicht schuldig werden. Selbst die höchste Instanz, das Gesetz, erkennt an, daß sie nicht schuldfähig sind.
Doppelgängergeschenke
Paul Pall saß auf dem Bett und umklammerte den Karton mit der Kaffeemaschine. XXYZ, hatte er seiner Freundin Anja eingeschärft, auf jeden Fall dieses Modell. Er musterte den Karton noch einmal scharf, studierte zum zigsten Mal den Aufdruck, XXYZ, es stimmte. Nun hing alles davon ab, daß Anja von seinen Vorgaben nicht abwich.
Eine Kaffeemaschine zu Weihnachten. Was wünschst du dir, hatte Anja gefragt, und er verschluckte, was er sich wünschte: zwei Kaffeemaschinen. Sie kannten einander noch nicht lange, sie kannte ihn nicht gut, und so sagte er zögernd: eine Kaffeemaschine.
Seither stand er wieder Ängste aus, wie er sie über längere Zeit zu vermeiden gewußt hatte. Sein Atem ging schneller, er schwitzte unter den Armen und im Schritt, er spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich und zugleich eine fliegende Hitze rote Flecken malte. Eine Kaffeemaschine, eine einzelne. Was, wenn sie nicht die richtige fand. Nun, er würde die, die er auf dem Schoß hielt, umtauschen können. Dennoch die verheerende Frist bis dahin, die Unruhe, die Zerrissenheit.
Er strich über die faserige Kante des Kartons, er streichelte die verkleinerte Abbildung der Maschine, legte seine heiße Wange an die glatte Pappe, die sanft kühlte wie eine Wasserfläche. Wunderbare Kaffeemaschinenvermehrung — das war es, was er sich jetzt wünschte, dringend wünschte. Andernfalls würde er die ganze Nacht nicht schlafen können.
Er kaufte sich alle Gegenstände zweifach. Mindestens zweifach, manchmal dreifach, und bei Unterwäsche und T-Shirts war das Minimum: vier Exemplare desselben. Vier Exemplare von Dingen, die schnell verschlissen. Er mochte Socken im Vorratspack, und mit Angeboten wie zwei Pullover zum Preis von einem war man ganz auf seiner Linie, aber entscheidend blieben doch die größeren Anschaffungen. Wenn ein Elektrogerät kaputtging, und damit mußte man jederzeit rechnen, hatte er ein identisches Ersatzgerät im Keller. Das unbrauchbar gewordene Gerät kaufte er nach, falls es noch zu haben war, aber mit dem Ersatzgerät konnte er sofort operieren, den Toast toasten, die Wäsche bügeln, der Tagesablauf war nicht beeinträchtigt.
Er stand vom Bett auf, schob die Kaffeemaschine in ihrem Karton in die Plastiktüte des Elektrogeschäftes zurück und trug sie in den Keller. Er deponierte sie auf der Gefriertruhe und nahm eine von zwei länglichen Verpackungen aus dem Regal, die puristisch pappbraun waren; nur an einem Ende klebte ein kleines Papier mit roten chinesischen Schriftzeichen. Im Wohnzimmer öffnete er den Deckel und zog vorsichtig die grüne, äußerst grüne Wucht heraus.
Lange hatte er überlegt, ob er einen Baum aufstellen sollte. Zwei Tannenbäume im Zimmer waren für Anja wohl kaum akzeptabel. Ganz ohne Baum fehlte die Feierlichkeit. Er hatte sich schließlich für die beiden ausklappbaren Plastiktannen entschieden, von denen die eine im Keller ausharren konnte, ohne zu nadeln.
Er wand Lichterketten um die Zweige und hängte Kugeln auf. Er deckte im Wohnzimmer den Tisch: zwei Messer, zwei Gabeln für jeden, Vorspeise, Hauptspeise, für jeden zwei Gläser. Er begann, sich ein wenig zu lockern.
Es hatte damit angefangen, daß ihm die Lieblingshose zerriß. Seine Mutter hatte diese Hose weggeworfen, und er war wochenlang durch alle Geschäfte geirrt, um die Hose, diese Marke, diese Größe, diesen Schnitt, diese Farbe, noch einmal zu finden, aber er hatte eine solche Hose niemals mehr auftreiben können. Von der nächsten Hose, auch wenn er nicht wissen konnte, ob sie in den Rang einer Lieblingshose aufsteigen würde, kaufte er sicherheitshalber gleich zwei. Man ersparte sich viel Rennerei, man ersparte sich viele Enttäuschungen, denn wenn es einmal vorkam, daß man mit einem Produkt wirklich zufrieden war, konnte man davon ausgehen, daß es wie von Geisterhand nach kürzester Zeit aus allen Läden verschwunden sein würde. Auch Bücher — man verlieh eines und sah es nie wieder.
Er hatte zweimal das Geschenk für Anja gekauft, eine Kette mit einem Sternzeichenanhänger. Sie hatte sich eine Kette gewünscht, und er war zweimal im Abstand von einigen Tagen in das Juweliergeschäft gegangen, um nicht den Eindruck zu erwecken, mehrere Frauen einfallslos mit derselben Sache zu beglücken. Eine Schmuckschatulle würde er überreichen, die andere in seinem Schreibtisch aufbewahren für den Fall, daß sie die Kette verlegte oder verlor. Solange nichts passierte, brauchte sie vom Vorhandensein der zweiten nichts zu wissen, um so mehr würde sie sich freuen, wenn der verlorene Schmuck so mühelos wieder auftauchte. Im Hinblick auf dieses Geschenk war er vollkommen ruhig. Sie war Skorpion, und er hatte einen hübschen Anhänger mit einem zierlichen und zugleich machtvollen Skorpion gefunden.
Seine Freundin kam pünktlich. Sie begannen mit dem Essen. Nach dem Essen würde es die Bescherung geben, so war es ausgemacht. Anja hatte die Tüte mit seinem Geschenk im Korridor abgestellt, er ging mehrfach daran vorbei, während er die Speisen auftrug und immer noch etwas aus der Küche holte, Streichhölzer, Korkenzieher, den Ausgießer für den Wein. Die Größe des Kartons stimmte, das erkannte er erleichtert trotz der Umhüllung. Der Karton besaß ein besonderes Format, sie mußte das richtige Gerät genommen haben. Im Keller wartete der Zwilling. Er entspannte sich.
Als er die Dessertteller abräumte, brachte Anja das Paket aus dem Korridor. Erst die Bescherung, dann der Kaffee, verlangte sie augenzwinkernd. Ihm wurde plötzlich wieder heiß. Mit zitternden Händen überreichte er die pompös verpackte Schatulle. Schleifen und Flitter und ein goldener Aufkleber des Juweliers, Anja riß alles einfach ab und klappte das Gehäuse auf. So etwas habe ich schon, sagte sie.