Die Schönheit des Staubs
Er wollte Schriftsteller werden. Nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre, zu dem ihn seine Eltern gezwungen hatten, erlaubte ihm eine Erbschaft, seine Zeit tatsächlich zu großen Teilen mit der Schriftstellerei zu verbringen. Kasimir Krautstock ging spazieren, bedachte seine Bücher. Sein Plan war, ein weltumspannendes Epos zu liefern, einen Liebes- und Historienroman, ein Lebenswerk. Es sollten ungefähr zehn Teile werden, die in verschiedenen Ländern spielten; Länder, in die es die Liebenden verschlagen hatte, da sie sich aufgrund politischer und familiärer Verwicklungen auf der Flucht befanden. Der Plan bestand formal darin, die Weltgeschichte, wie sie sich ihm seit der Antike darstellte, in ein System zu bringen, das mit den Himmelssphären und den Frequenzen der Sphärenmusik korrespondierte: ein Roman, der alles einschloß, ein Roman, bildlich gesprochen, in Kugelform.
Er ging spazieren und arbeitete den Plan aus. Zu Beginn hatte er eine Zeichnung angefertigt, die die Länder der Weltkarte an bestimmten Punkten mit den Schalen der Himmelskuppel verband. Jetzt ging es darum, die Einzelheiten authentisch darzustellen. Er studierte alte Kulturen, lernte abgelegene Sprachen, beschäftigte sich mit Musiktheorie. Korrespondenzen würde sein vielbändiges Werk heißen, oder auch Harmonie der Sphären, wobei er sich nicht sicher war, ob am Ende nicht Disharmonien passender wäre.
Von vornherein war das Projekt zum Scheitern verurteilt. Er glaubte sich in den weltlichen Dingen nur ungenügend auszukennen. Er ahnte, daß die Anlage des Ganzen falsch war, nicht schlecht, aber falsch. Deshalb fing er nicht an. Er schrieb nicht, er bereitete sich vor.
Abgelegene Sprachen zu erlernen fiel ihm leicht. Er wunderte sich, wie leicht es ihm fiel. Er schrieb Leserbriefe an Verlage, um sie auf Fehler in ihren Drucksachen aufmerksam zu machen. Das Wörterbuch des Malaiischen, die finnische Grammatik, die Lesetexte in einem Lehrbuch afrikanischer Dialekte hatte er stirnrunzelnd korrigiert und den Verlagen die richtigen Versionen mitgeteilt. Davon sprach er auf den Partys, zu denen man ihn einlud, weil auch er rauschende Feste zu veranstalten wußte. Aber am Wörterbuch des Malaiischen waren die wenigsten interessiert. Insgesamt war er kein sonderlich gern gesehener Gast. Er besaß die Kraft des Zugriffs, und zwar gerade auf die Punkte, die man in einer Konversation höflicherweise vermied. Er fragte die Gastgeberin nach ihrem Haarfärbemittel, den Gastgeber nach seinem unehelichen Kind. Auf dem Fest seiner eigenen Eltern berichtete er den Anwesenden von den Bestrafungen, die er als Kind erfahren hatte, auf dem Geburtstag des Bruders erklärte er den Gästen, daß er mit dem Bruder im Streit lag, weil er zuviel Geld im Bordell durchbrachte und die gemeinsame Firma vernachlässigte.
Bei der Abendeinladung eines Geschäftspartners, den er bis dahin noch nie gesehen hatte, weil sein Bruder sich um solcherlei Angelegenheiten kümmerte, legte er den Plan seines Lebenswerks dar. Er referierte ausführlich über den Klang einzelner Himmelsschalen; die Zuhörer wandten sich ab und holten Getränke. Allein gelassen, wandelte er gedankenverloren durch die Räume. Der Geschäftspartner trat auf ihn zu, leitete ihn zu der Gruppe, in der sich auch sein Bruder unterhielt. Kasimir Krautstock riet dem Geschäftspartner, auch einmal unter den Schränken zu fegen. Die Gruppe erstarrte. Der Geschäftspartner sei niemand, der den Staub zu würdigen verstehe. Das könne er, Kasimir, einfach so voraussagen. Dann aber solle man sich bemühen, den Staub gründlicher zu entfernen. Niemandem fiel dazu etwas ein. Er meine das sowohl symbolisch als auch konkret, erläuterte Kasimir, bevor er vor einem alten Möbelstück auf die Knie ging und die Arme lang in den Spalt zwischen den Schrankfüßen streckte. Sammelbewegungen. Völlig verschmutzte Ärmel eines teuren Anzugs. Hände voll Staub. Staub in filigranen Strängen, in lose zusammenhängenden Segmenten, wie Körper feinbehaarter Raupen. Staub mit borstigem Haar durchsetzt, Staub voller Krümel und Spinnenbeine. Staub von stumpfem Grau, von unendlicher Weichheit, Kasimir hielt ihn zärtlich an seine Wange. Darum werde es gehen in seinem Roman. Die irdischen Kopien himmlischer Systeme. Verschlungene Fäden. Schönheit des Staubs.
Blumenmumien
Der Goldhamster rannte über den Weg und versteckte sich hinter einem Büschel Löwenzahn. Dort saß er zitternd, äugend.
Später Herbst. Nachts schon die ersten Fröste. Schlechte Zeit für ein Jungtier, draußen.
Kurt Koch hob ihn auf und steckte ihn in seine höhlige Anoraktasche, zog den Reißverschluß zu. Zwei Schritte weiter wuselten Hamster am Rand der Wiese und versuchten, in mehrere Richtungen zugleich zu fliehen. Kurt Koch zählte drei Junge sowie ein älteres Tier, wohl die Mutter. Sie wirkten verstört. Gerade erst ausgesetzt. Hatten sich noch nicht weit voneinander entfernt. Kurt Koch fing sie ein. Sein Mitleid war überwältigend. War nicht auch er selbst erst kürzlich ausgesetzt, von seinem Freund vor die Tür gesetzt worden? Er erinnerte sich an den letzten Kuß auf dem Bahnsteig. Zwei kleine graue Männer in Anoraks, schon älter, nicht begütert, die aneinander Halt suchten. Er hatte den anderen umfaßt, war von ihm über den Kopf gestreichelt worden, und Kurt, noch ein Stückchen kleiner als der Reisende, hatte sich auf die Zehenspitzen stellen müssen, um ihn zu küssen.
Als sein Freund zurückkam, hatte der plötzlich eine Frau, und es war aus. Ihm blieb nur ein Blumenstrauß, apricotfarbene Rosen mit Schleierkraut, den er im Oktober zum Geburtstag bekommen hatte. Über Kopf aufgehängt, sorgsam getrocknet und wieder in die Vase gestellt, stand der Strauß auf dem Wohnzimmertisch und staubte ein.
Es schnürte ihm die Brust, aber er wollte nicht wieder heulen, nicht mitten im Park. Er sammelte die Hamster in seine Jackentasche und nahm sie mit nach Hause. Sie konnten vorläufig im ausgedienten Aquarium wohnen.
Er hatte das Aquarium mit Sägespänen und Holzwolle befüllt, in die sich die Hamster eingruben. Er konnte sie durch die Glaswand schlafen sehen: eingerollt, mit winzigen rosa Pfoten, zuckenden Näschen, hauchdünnen Lidern, ein niedlicher, ein zerbrechlicher Schlaf.
Das erwachsene Weibchen war schon wieder trächtig. Als der Wurf kam, schien es ihm besser, die älteren, schon halbwüchsigen Jungen von der Mutter zu trennen. Er kaufte ihnen einen Hamsterkäfig mit Laufrad. Manchmal stand er nachts auf und sah ihnen zu, wie sie darin liefen. Es rührte ihn, daß sie sich vergeblich Mühe gaben, liefen und liefen ohne Ziel. Sie erreichten nichts, und er empfand Sympathie für sie, er fühlte sich ihnen nahe, fast hätte er gedacht: verwandt.
Die Hamster vermehrten sich unerwartet schnell. Nach drei Wochen trugen bereits die Jungen, die er im Park gefunden hatte, nach drei weiteren Wochen die Kleinen, die im Aquarium geboren waren. Er kaufte einen größeren Käfig, aber bald benötigte er mehr Behälter, so daß er zu improvisieren versuchte. Holzkisten oder Pappkartons kamen nicht in Frage, die Tiere fraßen sich durch. Putzeimer kamen in Frage, große Einmachkessel, stabile Plastikkisten mit hohem Rand. Er stellte bereit, was sein bescheidener Haushalt hergab. Versorgte die Hamster mit Futter. Wechselte die Einstreu, wenn auch seltener als zu Beginn. Dann gelang es dem ersten Tier zu entweichen.
Von Anfang an hatten die Hamster, die nicht im Laufrad liefen, unablässig Versuche unternommen, die Wände hochzugehen. Schon im Aquarium waren sie mit Anlauf gegen das Glas gesprungen, hatten zwei Schritte in die Höhe gemacht, um dann abzurutschen und wieder unruhig mit den anderen zu wimmeln. Sie rannten und sprangen die ganze Nacht, und er bedeckte das Aquarium vorsorglich mit einem Kuchengitter, beschwerte dieses mit einem Topf.