Mir ist die Vorstellung unangenehm, daß mein Bettgeruch seinerseits das Zimmer verläßt und sich in irgendeiner Ecke des Gebäudes anstaut, dort eine unerhörte Konzentration erreicht und womöglich andere Personen nötigt, sich damit zu konfrontieren, falls sie ausgerechnet diese Ecke des Gebäudes aufsuchen müssen. Frau Dr. Z., beispielsweise, hat in ihrer Funktion als Chefin an den ausgefallensten Stellen innerhalb dieser Mauern zu tun. Gut möglich, daß sie das Gefühl beschleicht, ich sei in der Nähe oder, schlimmer, sie befände sich quasi in meiner Mitte.
Auf der nächsten Sitzung könnte ich mich mit dem Vorschlag hervortun, eine Dunstabzugshaube anzuschaffen. Doch ist dafür kein Geld da, und es würde nichts ändern.
Seit ich im Schloß wohne, habe ich die prekäre Position inne, mich, ohne etwas dazu zu tun, von meinem Bett aus zu verbreiten, ja ich werde von diesen speziellen Räumlichkeiten, den eigentümlichen Luftwegen, den Durchzügen und dem Übermaß an Ritzen in eine sonnenkönighafte Lage gebracht: einerseits von meinem Zimmer unverhältnismäßig auszustrahlen, andererseits die eigenen Körperfunktionen praktisch öffentlich auszuüben, also abgeschottet, aber ohne Privatsphäre, gravitätisch, aber nur im Bett, während die eigentliche Macht von meinen Ersatzgestalten ausgeht.
Vorgestern habe ich ein Porträtfoto von mir an die Tür des Behandlungszimmers geklebt. Damit greife ich die unsägliche Sitte auf, die Frau Dr. Z. eingeführt hat: Im Foyer hängen selbstgemalte Bilder der Patienten, es sollen Selbstporträts sein, die dazu dienen, den Besuchern einen ersten Eindruck von den Bewohnern zu verschaffen. Dieser Eindruck kann aufgrund der Qualität der Zeichnungen nur ein haarsträubender sein, aber es gehört zum verspielten Ansatz von Frau Dr. Z., keine normalen Lichtbilder, sondern sogenannte kreative Werke des Selbstausdrucks zu verwenden. Findet ein Besucher zu uns hinaus, muß ihn dieses Foyer voller drachenartiger Gestalten, zerstückelter Körper und fies grinsender Grimassen auf jeden Fall abschrecken. Damit ist es Frau Dr. Z. gelungen, die Figur des dämonischen Türhüters, auf den die Bauherren bei unserem Schloß, einem Lust- und Jagdschloß, verzichtet haben, auf eine besonders abstoßende Weise wieder einzuführen. Indem ich ein eigenes Foto an meine Tür geklebt habe, protestiere ich gegen diesen Unfug, passe mich aber den Erwartungen von Frau Dr. Z. in maßvollem Umfang auch an. Mein Foto ist sehr scharf, ich lächele darauf freundlich und einladend. Durch das breite Lächeln sehe ich buddhahaft aus, rundgesichtig, genaugenommen auch etwas kindlich und naiv, aber die Patienten ziehen, wie ich beobachten konnte, vor dem Behandlungszimmer den Kopf ein, ziehen die Schultern hoch, blicken verschämt und betont unauffällig zur Tür, um sich sofort wieder abzuwenden. Gestern sah ich, wie Frau Dr. Z., die dort selten zu tun hat, durch den Gang huschte, fahrig nach dem Rechten sah. Sie erkannte mein Bild, zuckte zusammen, ihre stolze Körperhaltung brach ein, es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder fing. Ich selbst befand mich am anderen Ende des Gangs, ich war im Begriff gewesen, ihr entgegenzukommen, aber dann zog ich es vor, über eine andere Etage auszuweichen.
Unsere Ergotherapeutin Petra, eine robuste, rotgesichtige Person, die täglich mit dem einzigen Bus hierher und abends wieder zurück pendelt, sprach mich beim Mittagessen an und lobte das Foto. Es sei so zugewandt, meinte sie, vermittele Trost. Allen Ernstes sagte sie Trost. Sie gehe jetzt öfter durch diesen Korridor, fügte sie hinzu, denn das Foto richte sie auf, es gebe ihr Halt. Ich bemühte mich, gewichtig zu nicken, ich verzog keine Miene.
Beim Nachtisch. Frau Dr. Z. deutete an, ihr gefalle mein Foto, weil es nicht privat wirke. Es sei sehr stilisiert, zwar scheinbar persönlich und damit vertrauenerweckend, in Wirklichkeit aber gerade aus diesem Grund unpersönlich, sie finde es, meiner Position entsprechend, ausreichend neutral. Es komme, gab sie mir zu verstehen, auf das allerneutralste Aussehen an, sie wünsche sich die neutrale Pracht einer Wand, an der die Patienten sich aufrichten. Ich habe nur allzugut verstanden, was sie damit meint: Sofern meine Funktion eine symbolische ist, bin ich austauschbar, durch jeden Beliebigen leicht zu ersetzen.
Der pikante Geruch hat atemberaubende Dichte erreicht. Er aktiviert den Speichelfluß, aber bedauerlicherweise ist noch längst nicht Frühstückszeit. Zwischen den Scheiben meines Doppelfensters habe ich, eiserne Ration, ein halbes Glas Apfelmus deponiert. Es paßt zu Reibekuchen, im Fenster bleibt es frisch und hält sich einige Tage. Ich könnte es auch im Korridor in den Kühlschrank stellen. Aber wenn ich nachts aufwache und mich mit einem Löffel Apfelmus beruhigen, stärken, wieder einschläfern möchte, brauche ich mein Zimmer nicht zu verlassen. Das Glas, bauchig inmitten von Glas, schillert wie eine polierte Fruchtschale und kann die Rundheit, Vollkommenheit, Autonomie des Apfels mehr als zufriedenstellend ersetzen.
Nachteil der Fensterverwahrung: Man sieht es von draußen. Ein angebrochenes Schraubdeckelglas mit graugrünem Mus. Vorteiclass="underline" Man sieht es von draußen. Apfelmus, golden schimmerndes Kleinod. Handlich steht es im Fenster, ein weitreichendes, ein reichsapfelhaftes Signal.
Da innerhalb der hierarchischen Struktur unserer Anstalt die vornehmste Übung darin besteht, auch ohne weißen Kittel, rein mittels Haltung die Autorität zu wahren, erliege ich allein aufgrund der Tatsache, daß mitten im Schloß mein Bett steht, einer reputationszerstörenden Peinlichkeit. Die Autorität liegt nicht. Sie liegt niemals. Wer liegt, ist tot. Nicht einmal Christus am Kreuz liegt, er liegt auch nicht im Grab, folgerichtig. Das Grab ist leer. Einzige Ausnahme: ägyptische Gottheiten. Diese werden liegend abgebildet, insofern sie zwar tot sind, aber dieser Tod als relativ aufgefaßt wird, als kurze Passage, gewissermaßen als Initiation. Die liegenden Gottheiten werden behandelt, gesalbt, sie wechseln damit auf der Stelle vom Gottheiten- zum Patientenstatus. Auffällig auch das Möbel, auf dem sie sich in diesem Zustand befinden. Heutzutage würde man es als Seziertisch bezeichnen, oder auch, ohne weiteres, als Couch.
Dieses Couchgefühl, hier, ausgestreckt im Herzen des Schlosses, im Unort des Bettes, zwingt mich zur Verschärfung meiner ärztlichen Fähigkeiten. Hier ist mir auferlegt, einen Mittelpunkt zu bilden. Frau Dr. Z. hält dies für das A und O der ärztlichen Kunst: einen Mittelpunkt bilden, an dem die Patienten sich ausrichten können.
Als Chefin führt sie dieses Kunststück immer wieder mit unerhörter Selbstsicherheit vor. Die Patienten hängen, einen gewissen Mindestabstand vorausgesetzt, in Trauben an ihr, weichen ihr nicht von den Fersen. Sie hat keine Zeit für sie, läßt sich auf kein Gespräch ein, aber die meisten finden bereits in ihrem Anblick Zärtlichkeit, Erleichterung und Rat.
Ich muß davon ausgehen, daß dergleichen auch von mir erwartet wird. Nicht alle Aufgaben im Schloß werden ausgesprochen. Vieles setzt Frau Dr. Z. stillschweigend voraus. Alles, was mit Format zu tun hat, mit Charakter. Mit Fähigkeiten wie Takt und Einfühlungsvermögen, die schwer zu messen, schwer zu bewerten, schwer zu überprüfen sind.
Mir persönlich ist das Mittelpunktbilden nicht immer angenehm. Oft wäre es mir lieber, eine etwas randständigere Position zu bekleiden. Allein die Patienten beharren darauf, sich an mir zu orientieren, mein Tun und Lassen nachzuahmen, die Räumlichkeiten, in denen ich mich bewege, mit Vorliebe ebenfalls aufzusuchen.
Ein eigenwilliger Wunsch nach Nähe führt so manchen ausdrücklich in die Richtung meines Schlafzimmers. Gestern erst, als ich mich in der Mittagspause für einige Zeit zurückziehen wollte, stand Herr P. neben dem Kühlschrank im Korridor, die Hand an der Brille studierte er das Logogramm, als ließe sich anhand der Kühlschrankmarke Entscheidendes auch über mich erfahren. Bei meinem Kühlwunder handelt es sich um den Haushaltskühlschrank Kristall 63 aus dem VEB Deutsche Kühl- und Kraftmaschinen Scharfenstein, ein Modell mit futuristisch gerundeten Ecken, über die Herr P. gleich anerkennend strich. Als er meiner gewahr wurde, nickte er befriedigt, wich aber nicht von der Stelle. Ich schlüpfte in mein Zimmer, quetschte mich genaugenommen durch einen allzu schmalen Türspalt, um Herrn P. keinen Einblick zu ermöglichen, schloß die Tür ein wenig zu schnell, ein wenig zu laut.