Es gibt, soweit ich weiß, keine Regel, die es den Patienten untersagt, sich tagsüber in den Fluren des Schlosses aufzuhalten. Sie drücken sich, selbst wenn sie keine Therapiestunde haben, immer wieder vor meinem Büro herum, mischen sich unter die Wartenden. Aber besonders mein Schlafzimmer zieht sie an. Sie sonnen sich dort vor der Tür im Glanz meiner Abwesenheit. Tagsüber nehmen sie meine nächtliche Präsenz vorweg, was dazu führt, daß ich mich des Nachts von ihnen behelligt fühle. Ich weiß, sie träumen von mir. Ich träume von ihnen. Das Schloß kreist um mich.
Ich wälze mich auf den Rücken, ziehe die Bettdecke noch einmal bis zum Kinn. Der Morgen dämmert heran. An meinen Plafond ist ein Himmel gemalt, blaßblau mit goldenem Sternendekor, der seine besten Zeiten hinter sich hat. Unter dem schimmeligen Blau zeigt sich wie aufkommende Bewölkung der Putz, die Sterne versinken in Schäbigkeit. Doch stammen sie aus einer Periode, in welcher man davon ausging, das selbstverständliche Zentrum Europas zu sein. Und während Europa längst in gleichberechtigte Staaten auseinanderfällt, in mäßig gefärbte Einzelsterne, die um ein leeres Zentrum kreisen, während der geographische Mittelpunkt Europas nach unterschiedlichen Berechnungen entweder in Polen, Hessen, Litauen oder Tschechien liegt, also einem Wanderpokal gleichkommt, halte ich es für eine meiner Aufgaben, diesen Himmel zu beruhigen, zu hypnotisieren, mich zu ihm in Bezug zu setzen, für diesen Himmel ein Zentrum zu sein. Es geht darum, sich auf einen Punkt zusammenzuziehen, sich zusammenzunehmen und gleichzeitig locker zu lassen, sich auszudehnen und alle Ausdehnung zu überstrahlen. Es geht darum, zugleich allen Raum einzunehmen und keinen. Ich bemühe mich nach Kräften, einen Mittelpunkt zu manifestieren, einen einzigen Punkt aus beliebigen gleichgültigen Punkten hervorzuheben, ihn zu einem besonderen zu machen, zu mir.
Ich suche mir einen der schäbigen Sterne aus. Ich vertiefe mich in seine Farbigkeit, in das alte Gold, das mit den Jahren einen rotzgrünen Ton angenommen hat. Ich möchte mich mit diesem Gold identifizieren, Voraussetzung für alles Weitere, es fällt mir schwer.
Du, meine Seele, versuchst den festen Punkt in dir zu finden, das Zentrum stubenhockerischer Geheimniskrämerei, doch da ist nur die gloriose Weite des Himmels, in welcher die weißen Gewohnheiten, grauen Gewohnheiten wandern. Uns fehlen die züngelnden Strahlen, die als Akte der Willkür von unserm Haupt ausgehen. Uns bleiben Gedanken unklarer Zuordnung, wahllose Gedanken, die gewöhnlich von einem zum andern driften, sich einnisten, rasch wieder fortfliegen.
Und du, meine Seele, ein Ort ohne Maß, jener Stern, der sich in seinem eigenen Glanz verliert, ein himmlischer Körper, in dessen Glanz sich die Welt wieder auflöst.
Die Sterne sind durch ein gemaltes Gitterwerk verbunden, welches eine ausschweifende Räumlichkeit andeutet, Sphären. Dort erhebt sich die geistige Schöpfung, hierarchisch angeordnete Chöre, wie ich sie im Religionsunterricht auswendig lernen mußte; Gott am nächsten die Seraphim, brennend vor Liebe, ihre sechs Flügel von Augen bedeckt, dann die Cherubim, angefüllt mit Weisheit; sie besitzen vier Flügel und vier Angesichter, eines nach jeder Seite, und in ihrem Gefolge drehen sich vier Räder ineinander, die sich ebenfalls zu allen Seiten wenden und alles zu sehen vermögen. Throne und Herrschaften, Mächte, Gewalten, Fürstentümer. Die Bezeichnung Fürstentümer schien mir immer etwas manieriert, fehlübersetzt, warum nicht einfach Fürsten. Ganz hinten oder unten, jedenfalls in größter Entfernung, was auch geistig oder seelisch, ganz unräumlich gemeint sein kann, lobpreisen Erzengel und Engel, sie alle von schäbigen Sternen verdeckt; Sterne, die ich mich bemühe, im Geiste lodern zu lassen, sie zu befeuern, zu bewegen, sie gänzlich auf- und schließlich am Firmament untergehen zu lassen. Verantwortung: Mir obliegt es, den gesamten Apparat in Gang zu halten. Doch du, meine Seele, und ich, wir können nur versuchen, den Anschein zu wahren, können bloß vorgeben, den Mittelpunkt zu bilden in ruckweise, unwillkürlich vergehender Zeit, in jenem problematischen Raum, der jeder Stelle die Last aufzwingt, Drahtzieher des Universums zu sein.
Die Ohnmacht des Himmels, mit Posamenten behängt. Und wieder beginnend die harte Arbeit am Weltlichen, trauriger Traum vom Tage, enthaltend Frau Dr. Z. und Herrn P., enthaltend meine Schwester Mila und Herrn Leonberger, Odilo. Der Morgen ist da.
Draußen Nebel, in dem blaß die Parkbäume schweben. Nebel draußen heißt, es wird auch drinnen alles eingenebelt sein, die Patienten den ganzen Tag über wie in Watte, undeutlich zu sehen, schlecht verständlich, unter der Watte verkorkst. Draußen Flügelschläge, das Schwanenpaar landet im Teich, reckt die Hälse über das gilbe Gras an der Uferböschung, wartet stoisch auf die ersten Pfleger, die ersten Patienten, die die Lust ankommt, mit ein paar Brotstücken in der Tasche um den Teich zu wandeln. Das Füttern der Schwäne ist strengstens verboten. Wohl handelt es sich hier meiner Ansicht nach um eine läßliche Regel, immerhin aber um eine Regel, die Frau Dr. Z. persönlich aufgestellt hat. Ich gebe vor, nicht zu bemerken, daß sich niemand daran hält. Die Patienten zweigen bei den Mahlzeiten systematisch Brotscheiben ab. Frau X. geht so weit, in ihrer Handtasche eigens eine Plastiktüte mitzuführen, um die Tasche vor Krümeln zu schützen, wenn sie morgens die Kanten, die sie nicht mag, und die Rinden, die sie sich abschneidet, vom Teller mit einem Schwung in ihren Schoß schaufelt, wo schon die Tasche ihr Maul aufreißt. Ich werde Frau Dr. Z. nicht in den Rücken fallen, aber ich halte die Schwanentherapie für sinnvoll. Die Patienten üben sich in Fürsorge, in Beschwichtigung, sie wollen die Schwäne auf jeden Fall über den Winter bringen, wie sie sie schon bequem über den Sommer gebracht haben, wollen sie an sich binden, wollen im Frühjahr flaumige graue Schwanenküken sehen, kurz und gut, sie setzen hohe Erwartungen in ihre Krümelwürfe, und sobald die Schwäne dazu ansetzen, ein paar Bröckchen aus dem Wasser zu fischen, schlagen sie auch schon freudig die Hände zusammen und sehen ihre Erwartungen erfüllt.
Auf dem Weg zum Frühstück nehme ich einen Seitengang. Es ist mir lieber, wenn ich den Patienten, den Pflegern, den Kollegen nicht bereits auf nüchternen Magen begegne. Nach dem Essen können sie kommen, vorher halte ich mich für angreifbar. Aber an der Treppe, wo sonst kein Mensch entlangläuft, holt mich jemand ein.
Sie gehen so krumm, sagt die Stimme der Kindsmörderin, und sie hat recht, ich lasse die Schultern hängen, zur Krise gekrümmt.
Seit der Beerdigung ist mir etwas entglitten, und ich gehe leicht vorgebeugt, den Blick zu Boden gerichtet, als suchte ich etwas, einen kleinen Gegenstand, den ich verloren habe, aber ich erinnere mich nicht genau, was es ist.
Sie gehen so krumm, lieber Altfried, sagt die Kindsmörderin, und ich blicke auf, um sie zu begrüßen, aber ich kann sie nicht sehen. Ich sehe ihre Schuhe, die vor mir den Gang entlangschlurfen, weiße Turnschuhe, die sie immer trägt, aber merkwürdigerweise nur ihre Schuhe. Dort, wo sich der restliche Körper hätte befinden müssen, scheint mir ein helles Tuch zu hängen, etwas Undurchdringliches, das mit dem grellen Neonlicht im Treppenhaus verschmilzt.
Etwas Blasses, entsetzlich Langweiliges, zutiefst Unauffälliges umgibt sie oder vielmehr steht vernichtend über ihren Schuhen, ich bringe es nicht fertig, genauer hinzusehen. Ich erinnere mich statt dessen an die letzte Therapiestunde, sie hatte zu den weißen Turnschuhen eine enge Jeans und einen rosa Pullover mit V-Ausschnitt getragen, die Füße ordentlich nebeneinandergestellt, die Knie geschlossen, eine Musterschülerinnenhaltung eingenommen, die Hände gefaltet. Auch da war es mir nur mit Mühe gelungen, ihr Äußeres überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Eine Aura von Verhuschtheit und Graumäusigkeit umgab sie, man interessierte sich nicht für sie, es kostete Kraft, ihr zuzuhören, und was sie sagte, schrieb ich automatisch auf, ich hörte es kaum und vergaß es sofort.