Ich hatte andere Pläne gehabt, aber ich sagte alles ab, packte die Feuerwerkskörper, die ich schon besorgt hatte, in den Kofferraum und fuhr gegen Abend zu ihm.
Ich trug eine Pelzmütze mit Ohrenklappen und einen Wollmantel von meinem Vater, ich errichtete an der Gartenmauer eine Abschußrampe, und noch bevor ich klingelte, testete ich die erste Rakete.
Er riß voller Ingrimm die Haustür auf, dann sah er, daß ich es war. Ich lächelte breit unter meiner Mütze, warf die Feuerwerkspackungen auf den Teppich im Windfang und achtete peinlich darauf, daß sie nicht mit dem Schneematsch in Berührung kamen, den ich unter den Schuhen hereintrug.
Ein steifer Abend bei Champagner und klassischer Musik.
Ich hätte andere Aktivitäten vorgezogen. Man konnte mit Odilo jederzeit tiefschürfende Gespräche führen. Aber er war nicht gerade ein Freund, mit dem man Spaß hatte.
Wir saßen vor unseren Gläsern und beobachteten, wie die Bläschen hochstiegen. Die Musik lief gedämpft, damit seine Mutter nicht aufwachte.
Zu meiner Überraschung bekundete er intensives Interesse am Verlauf meines Weihnachtsfestes. Bis dahin hatte er meinen familiären Hintergrund kaum zur Kenntnis genommen. Jetzt wollte er genau wissen, was wir getan hatten. Was gegessen. Wie wir einander beschenkten. Er fragte auch nach meiner Schwester. Ich erklärte, daß sie die Weihnachtstage nicht bei den Eltern verbracht hatte. Ich ahnte nichts.
Alle Weihnachtsabende übereinandergelegt ergeben fast dasselbe Bild. Man sieht im Zeitraffer, wie ich wachse, wie sich die Kleidermode ändert, man sieht die unterschiedliche Gestalt des Tannenbaums, der üppige Zweige ausbreitet und dann wieder schütter wird, sieht die armseligen stumpfen Nadeln mancher Jahre und die prächtig glänzenden anderer. Alle Weihnachtsabende übereinandergelegt ergeben ein Daumenkino, das ein leise bewegtes Motiv zeigt. Systematisch fährt die Fichte ihre Zweige ein und aus, blinken die Kugeln erst rot, dann gold, dann bunt, dann wieder rot, und für einen Moment brennen die Kerzen reglos elektrisch, während sie kurz darauf zu flackern und zu tropfen beginnen. Hefte mit Weihnachtsliedern klappen auf und zu, wieder auf. Lippen formen sich zu einem O, zu einem Kußansatz, ziehen sich in die Breite. Im Schlußbild sieht man mich zwischen den Eltern und Tante Sidonia, ich halte die Noten und erstarre in Gesang, man sieht mich im Schlußbild mit leidenschaftlich offenem Mund.
In diesem Jahr fiel meine Schwester aus, sie hatte andere Verabredungen getroffen, und ich mußte allein die Kinderrolle übernehmen. Normalerweise sangen wir fünfstimmig Weihnachtslieder, diesmal sangen wir zu viert, und wir gaben uns Mühe, einander nicht merken zu lassen, daß meine Schwester nicht dabei war.
Mit Freunden unterwegs, hatte Tante Sidonia gezischt, und vor Entrüstung überschlug sich ihre Stimme noch Minuten später, mitten im Lied.
Sie ist erwachsen, wir können ihr keine Vorschriften machen, hatte meine Mutter entschuldigend gemurmelt und vorgeschlagen, meine Schwester wenigstens anzurufen, aber dann bemerkten wir, daß niemand genau wußte, bei welchen Freunden sie eigentlich war. Kurz darauf rief Mila selbst an, teilte mit, sie hätten die Feier bereits hinter sich, die Geschenke, die Lieder, und wir sprachen ein wenig mit ihr über ein neutrales Thema, den Schnee.
Ausnahmsweise hatte es in unserer Region über die Feiertage geschneit. Der Schnee lag auf den Fensterbrettern und zog sich mit parabelhaftem Schwung an den Scheiben hoch. Von innen sah man, wie er das Glas an den Rändern eintrübte und nur ein gefiltertes, zauberhaft bläuliches Licht durchließ. Ich ließ mir den Hörer reichen und erinnerte Mila, daß wir früher manchmal Sprühschnee verwendet hatten, um diesen Effekt zu erzielen, widerliche Plastikkrümel, die aus der Düse stoben und an der Scheibe klebten und sich später nur mit Mühe wieder entfernen ließen, scheußlicher Kunstschnee, der aber von weitem heimelig wirkte, weil er trotz warmer Räume nicht die Form verlor. Indoorschnee, sagte Mila, moderner Unrat, und wir legten rasch auf. Indoorschnee. Ich benutzte damals Schablonen, um Sterne auszusparen, durchsichtige fünfzackige Sterne, von einem Strahlenkranz aus weißen Plastikfetzchen umhaucht.
Wir lehnten uns bedrückt zurück, mein Vater füllte unsere Gläser nach, wir aßen Weihnachtsgebäck.
Wir lungerten im Wohnzimmer in der Sitzgruppe, die ihre Position in all den Jahren nicht im geringsten verändert hatte, links vom Sofa die Fensterbank mit dem Christstern, den Alpenveilchen und Azaleen, daneben die Terrassentür mit dem Hebel und dem kleinen Knauf. Rechts die geschmückte Blautanne, sehr viel Lametta, silberne Kugeln und eine silbrig aufragende Spitze.
Wir tranken Glühpunsch und rieben die knirschenden Kandisbrocken der Printen zwischen den Zähnen, als kauten wir auf Juwelen. Knüppelharte Kräuterprinten, die man in ein heißes Getränk eintauchen mußte, um überhaupt hineinbeißen zu können. Aachener Printen, die das Aachen Karls des Großen in sich zu beschließen schienen, die karolingische Pfalzkapelle, auch die romanischen Kirchen des Rheinlandes, die Ottonen, die Kaiserkrone mit ihren goldgefaßten geschliffenen Edelsteinen, den ätherischen Farben, all das aßen wir mit der Hartprinte, und mir kam es vor, als sei sie nur deshalb so hart, um die Zeit besser speichern zu können, und als leiste sie nur deshalb so großen Widerstand, um uns in unserer Lebensmittelmüdigkeit noch einmal an das Glücksversprechen orientalischer Gewürze zu erinnern.
Zimtstangen, Gewürznelken, Sternanis. Ingwer, Koriander, schwarzer Pfeffer, Muskatnuß. Pottasche. Hirschhornsalz. Honig und Zitronat. Vanillestange. Brauner Rum. Ein Fläschchen mit Bittermandelaroma. Kakaopulver und Zuckerguß. Puderzucker, silberne Zuckerperlen, Hagelzucker: Wir aßen das Mittelalter und die Neuzeit, aßen Barock und Aufklärung, Reste alter Handelswege und der Kreuzzüge, aßen die Gepflogenheiten der Jahrhunderte und schließlich eine übersüße Gegenwart, die man zu Weihnachten durch persönlichen Verzehr dem Heiland opferte.
Meine Tante nahm zwei Spekulatius aus der Gebäckschale und legte sie vor sich auf die Serviette, sie deckte die Bildseiten auf, zwei Kärtchen eines Memoryspiels. Sie hatte einen Elefanten gezogen, dazu einen Müller. Seufzend biß sie in den Elefanten hinein.
Gebildbrote. Tronien. Aufdecken. Zudecken.
Meine Tante nippte am Glühpunsch und kaute schweigend, mit inneren Bildern befaßt.
Aufdecken: Fahrten mit dem Pferdeschlitten zur Christmette. Sidonia in eine Decke gehüllt, Johannes bis zur Nase unter einem Schaffell, die Mutter, ein wollenes Tuch umgebunden, singt.
Zudecken: Bei der Großtante seitens der Mutter in Köln, die ihre Söhne beide verloren hat, und der Sidonia nichts recht macht. Dort mit Johannes in einem schmalen Bett, Johannes, der sich an ihre Hand klammert und auch im Schlaf nicht losläßt.
Aufdecken: Gänsedaunen werden in ein Oberbett gestopft, Sidonia sitzt neben dem Ofen und ißt ein Schmalzbrot, Johannes, noch auf allen vieren, versteckt sich kichernd, bedeckt sich mit Federn.
Zudecken: Sosenpichlers, die Nachbarn linker Hand, die an einem kalten Abend aufbrechen zu Wanderungsbewegungen durch Europa, ein Oberbett im Gepäck.
Aufdecken: Der Kölner Pfarrer hat sein Wohnzimmer frisch tapeziert. Als Haushälterin serviert sie ihm und seinen Gästen ihren vielgelobten Schonkaffee.
Im Zimmer brannten nur die Kerzen am Baum. Sie ließen die Kugeln und das Lametta funkeln, und sie überzogen auch uns mit diesem Funkeln und Flackern. Eine unstete Bewegung glitt über die Gesichter und verschönerte sie, ließ die Augen glänzen, hob die Rundung eines Kinns hervor, vertiefte die Schatten zu etwas Samtigem, das mit der Tiefe des Zimmers verschmolz. Ich sah uns vor der geschmückten Tanne, umhüllt von den glitzernden Partikeln, als seien wir selbst diejenigen, die sie versprühten, hell hervortretende Köpfe, umgeben von schimmerndem Haar, hinter uns lange lamettahelle Schweife, Erinnerungen, die wir durch Raum und Zeit nachzogen. Von draußen, von der Straße aus konnte man uns leuchten sehen, Kometen, die sich einmal im Jahr auf ihrer Bahn trafen.