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Wir kurvten eine Weile um das Endenicher Ei. Auf dem Rückweg scherte ich aufs Feld aus und drehte auch hier einige Runden, ich fuhr keine Kornkreise, sondern eine Unendlichkeitsschleife. Immer noch sprühten einzelne Feuerwerkskörper in die Luft, das Feld lag im Schwarzpulverdunst.

Barocksonnen, sang Odilo vor sich hin, und es war mir unendlich peinlich, daß er mit dem Singen nicht aufhörte, Barocksonnen, sang er, Doppelsonnen, Nebensonnen.

Selbstfliegende Felder, wie witzig, guck mal.

Die Sonne geht auf. Wir sind die Sonne.

Als wären wir unschuldig, aber woran?

Odilo war betrunkener, als ich gedacht hatte.

Doppelsonnen, sang er: zwei Freunde, die umeinander kreisen. Doppelsonnen: Eine ist meist kleiner und halb verdeckt. Unsichtbare Sonnen, unrealistische Sonnen, Sonne unterhalb des Horizonts. Nebensonnen. Gegensonnen. Die Idee einer Gegensonne gefiel ihm besonders.

Parhelion — Scheinsonne, posaunte er in die Nacht, Scheinsonne — Sonnenschein, völlig verrückt. Sundog, prahlte er, Schoßhund der Sonne, und wenn wir diesen entführten, wäre doch unser Sieg über jene schon näher gerückt.

Vor seinem Haus öffnete ich den Kofferraum, nahm das Bleigießset heraus, dessen ich mich bei meiner Ankunft vor Mitternacht noch zu sehr geschämt hatte, und bugsierte ihn mitsamt dem Set ins Haus.

Bleigießen. Ich goß einen Tannenzweig. Er goß eine undefinierbare Masse mit Auswüchsen, die er nicht deuten konnte.

28 Die rotierenden Orte

Ich hatte von einem entnadelten Tannenbaumskelett geträumt, dessen Zweige dicht mit moosgrüner Wolle umhäkelt waren, eine paßgenaue warme Hülle.

Es war der Tag, an dem Odilo mich im Schloß besuchen kommen wollte. Den ganzen Vormittag über ging mir der Tannenbaum nicht aus dem Kopf. Er lag in meinem Traum an einem Wegesrand, wie unser Kliniktannenbaum vor einigen Wochen draußen gelegen hatte, abgetakelt und abgeschmückt. Diese Anstaltstanne hatte vom ersten Tag an genadelt, sie hatte genadelt, noch bevor sie überhaupt, mit einer Schnur Elektrokerzen umwunden, in der Eingangshalle stand. Erst hatten mehrere Personen, mit Leitern und Seilen ausgerüstet, den Baum aufstellen müssen. Dann wurde der Hausmeister gesichtet, der eine Kabeltrommel hinter sich herzog. Er führte endlose Kabelschlangen durch die Halle, weil es in der Ecke, die man für den Baum gewählt hatte, keine Steckdosen gab. Später kam er mit dem Besen und fegte die Nadeln auf. Als der Baum abgebaut wurde, war er bereits sehr schütter. Die letzten Nadeln lösten sich, als er draußen lag und darauf wartete, zersägt, dann verheizt oder kompostiert zu werden. Auch mein geträumter Baum war vollständig kahl, aber die Nadellosigkeit spielte keine Rolle, da er diesen wohligen Wollmantel besaß, der jeden Zweig einzeln umschloß, ein Mantel in Tannenform, von trügerischer Gemütlichkeit.

Während ich am frühen Morgen mein Zimmer aufräumte, die Fenster aufriß und gewissenhaft lüftete, klammerte ich mich an das vage tröstende Nachgefühl dieses Traums. Schon am Vorabend hatte ich das Bedürfnis verspürt, den Pflegern Dampf zu machen, sie anzuhalten, einmal, nur einmal mit analer Gründlichkeit aufzuräumen, sich in einem weniger ruppigen Umgangston zu versuchen, auch die Patienten besser anzuziehen, ein einziges Mal nicht die ewige Sport- und Freizeitkleidung, nicht die nachlässigen Frisuren, die überhängenden Hemden. Ich beherrschte mich, ließ die Pfleger in Ruhe, trug ein angebrochenes Apfelmusglas zum Kühlschrank, ich wischte Fettflecken von der Heizung und wechselte meine Bettwäsche.

Sozialarbeiter, hatte Odilo meinen Beruf genannt, und das hieß für ihn, sich selbst so weit erniedrigen, daß das eigene Licht unter dem Scheffel keine Chance mehr hatte.

Warum tust du dir das an, hatte er gefragt, warum nicht wenigstens Arbeitspsychologe, Forensiker, eine gutbezahlte Stelle, angemessen, anspruchsvoll.

Deine romantische Poesie des Arzttums, hatte Odilo gesagt. Erfahrungsseelenkunde! Psychokatharsis! Nervenspezialist! Es ist doch so, daß du die Krisen der anderen zu deinen eigenen Krisen machst.

An diesem Morgen kam mir die Erkenntnis, daß wir es am Ende gar nicht den Eltern, auch nicht dem Chef, sondern in erster Linie den Freunden rechtmachen möchten: in ihren Augen gut dastehen, mit unserer sogenannten Entwicklung ihrem kritischen Blick standhalten, uns mit der Ausübung unserer Fähigkeiten ihrer Gesellschaft würdig erweisen. Ich traute Odilo ohne weiteres die größte Übersicht über meine Möglichkeiten zu, die beste Kenntnis meiner Talente, eine grauenhaft gründliche Einsicht in meine Stärken und Schwächen. Auf die Eltern konnte ich hierbei seit der Grundschulzeit nicht mehr zählen. Sie meinten es gut, aber mit allem, was ich lernte, mit jedem Bildungsschritt entfernte ich mich aus ihrem Gesichtskreis. Von Odilo erhoffte ich mir, was sie mir nicht mehr zu geben vermochten: Unterstützung, Anerkennung und Absolution.

Ich hatte übermäßig lange gelüftet, um die schlechten Gerüche aus dem Raum herauszubekommen. Aber das Muffige saß in den Wänden, der Raum war jetzt starkriechend und eiskalt.

Bei seiner Ankunft standen knöcheltiefe Pfützen vor dem Schloß, die er vorsichtig umschritt. Odilo, dunkelbeschuht, mit leicht eingedrehten Füßen, schlackerndem Gang.

Er hatte sich, das sah ich vom Fenster aus, in die alte Lodenjacke gekleidet, die er vorwiegend bei unseren Erlkönigfahrten getragen hatte, eine Jacke, die damals schon äußerst unmodern gewesen war und die er nun, womöglich in einem Anfall von Nostalgie oder als Zeichen der Verbundenheit, wieder herausgekramt hatte. Odilo, von allen unverstanden, genialisch, abschätzig: Ich sah ihn vom Schloßfenster aus, kam ihm nicht entgegen, wollte abwarten, wie er sich zurechtfand.

Der Zufahrtsweg lag windig und leer.

Einzig Herr P. hockte an den Pfützen, er hatte weißes Konfetti aus einem Locher mit roten Filzstiftkreuzen versehen und ließ jetzt die angekreuzten Boote schwimmen. Der Schwanenteich schien ihm für dieses Manöver zu riskant. Er hatte recht. Die Schwäne waren in der Lage, sein Konfetti irrtümlich zu fressen. Odilo umrundete höflich auch ihn, Herr P. erhob sich und deutete eine Verbeugung an. Odilo nickte gnädig und ging rascher, achtete kaum noch auf den nassen Grund.

Odilos Ankunft: Plötzlich sah ich die Leiter in der Ecke der Eingangshalle, sah mit seinen Augen den aufgerollten Teppichrest lehnen, erinnerte mich an den Stapel hölzerner Besteckschubladen, der seit Ewigkeiten am Tor vor sich hinrottete.

Immerhin, die Patienten, in der nicht ganz falschen Vermutung, es handele sich bei diesem Mann um einen Teil, vielleicht die Vorhut einer Prüfungskommission, die Patienten hielten sich tunlichst zurück.

Im Flur lungerte nur Herr Q., der auf ein gepflegtes Erscheinungsbild Wert legte, den immer gleichen Anzug mit dem immer gleichen Einstecktüchlein trug. Er verlebte den Tag im Schlendern durch die Korridore, drückte sich in den Sälen herum, sah sich außerstande zu lesen, außerstande, länger bei einer Sache zu bleiben. Diese Zerstreutheit rührte von den Medikamenten, die wir ihm verabreichten. Deren Nebenwirkungen waren zwar allgemein in den letzten Jahren zurückgegangen. Dennoch verhielten sich viele Patienten unkonzentriert, gedämpft. Bei einigen veränderte sich die Gesichtsfarbe, manchen fiel es schwer, deutlich zu sprechen, weil sie ihre Zunge als unbeweglich und vergrößert empfanden, als schwer und gelähmt.

Sanatoriumsbesucher, Kurgäste, Idioten? Nach langer Zeit fragte ich es mich erneut: Sah man den Patienten etwas an? Und wenn ja, was?