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Am Morgen bin ich mir nicht mehr sicher, ob nicht das Ganze nur ein Traum war. Habe ich Polarlicht gesehen? Hat es mich ergriffen? Als ich mich wasche, finde ich ein Stückchen weißen Lack unter dem Daumennagel.

Vormittags werde ich zur Ergotherapie gerufen, weil ein Patient einen Tobsuchtsanfall erleidet. Herr P. hat sich gestern vom Mittagessen ein Fischstäbchen mit auf sein Zimmer genommen und es im Waschbecken schwimmen lassen. Die Panade hat sich über Nacht abgelöst, und nun hat er es mit zur Ergotherapie gebracht, um ihm ein neues Schuppenkleid zu verpassen. Aber die Papierschnipsel, die er aufklebt, haften nicht. Als ich komme, packt er gerade einen Stuhl am Bein, haut ihn auf den Tisch, zerstört die Arbeiten von Frau Y. und Herrn Q., sein Fischstäbchen kommt glimpflich davon und zerbricht nur in zwei Stücke. Frau Y. sägt mit der Handkante verzweifelt an ihrem Oberschenkel, Herr Q. ist erstarrt. Ich entwinde Herrn P. den Stuhl, bette die unbekleideten Fischfragmente auf ein weißes Blatt Papier, nehme Herrn P. an die Hand. Sie ist weich wie der Bauch eines Tieres. Wir gehen in die Küche, reparieren das Fischstäbchen mit einem Zahnstocher, hüllen es in Paniermehl, tragen es zum Schwanenteich. Herr P. nimmt es vorsichtig vom Papiertablett auf, hockt sich nieder und setzt es ins Wasser. Es geht sofort unter. Nur das Paniermehl treibt auf der Oberfläche, bildet kleine Inseln wie Blütenstaub. Herr P. beruhigt sich. Auf dem Rückweg zum Schloß verwickelt er mich in ein Gespräch über die vernünftigen und unvernünftigen Änderungen im Steuerrecht, die die Regierung plant. Er ist Steuerberater aus Charlottenburg, noch immer betreut er einige Klienten. Jeden Mittwoch fährt er in sein Büro nach Berlin.

Mittags sehe ich die Patienten apathisch durch die Gänge ziehen, vollgepumpt mit Haloperidol, in kraftloser Zeitenthobenheit. Ich sehe sie mit Mühe einen Fuß vor den anderen setzen, nah an der Wand entlang, um sich gegebenenfalls abzustützen, so daß sich in Brusthöhe ein dunkles Band von den Berührungen der Hände abzeichnet, die Bahn, auf der sie lange und langsam kreisen. Sie gehen tagsüber die Runde, die ich bei Nacht mache, sie gehen lastend, resigniert um den leeren Mittelpunkt der Anlage, halten sich an der Wand fest. Frau Dr. Z. plant, diese Wand bis in eine Höhe von zwei Metern mit Latexfarbe zu streichen, so daß man die Spuren menschlicher Finger abwaschen kann.

Nachmittags stehen im Kavaliershaus die Türen offen, es ist Besuchszeit.

Herr M. sitzt auf seinem Bett, blickt auf seine Schuhe, reagiert nicht auf Ansprache. Seine Gattin hat den einzigen Stuhl eingenommen, sie balanciert schmal auf der äußersten Kante, preßt die Knie aneinander, ringt verlegen die Hände, berichtet leise und monoton von Ereignissen in der Familie, der Verwandtschaft, der Nachbarschaft.

Herr W. lehnt kerzengerade als Schwellenhüter am Türrahmen, schaukelt den Oberkörper manchmal vor, bis er eine Schranke bildet, schnellt in die aufrechte Haltung zurück. Herr B. hat niemanden zu erwarten.

Herr S. tritt in Häschenpantoffeln aus seinem Zimmer und geht rückwärts wieder hinein. Er droht seinem Besuch mit einer prall ausgestopften Socke, die er in Höhe seines Hosenschlitzes schwenkt. Die Socke ist mit anderen schmutzigen Socken gefüllt, die oben herausquillen, und er versucht, das offene Ende der Wurst an seinem Gürtel festzuklemmen, was ihm zu seinem Ärger mißlingt. Der Besuch weiß sich nicht dazu zu verhalten. Wendet sich ab, räumt Schubladen auf.

Auch ich würde lieber Schubladen aufräumen, aber ich durchschreite den Korridor und zeige mich im Fernsehraum, demonstriere den Besuchern, daß wir alles im Griff haben, schüttele einige Hände, bewege mich lässig und wichtig, so daß den Angehörigen ein Arzt im weißen Kittel vor Augen steht, obwohl ich den Kittel nicht trage. Dann versuche ich mich selbstbewußt zu entfernen, wie mit einem Gummiband gehalten von den Blicken der Patienten, von den Blicken ihres hilflosen Besuchs.

Ich bin inzwischen imstande, innerhalb kürzester Zeit die Härte und Glätte von Frau Dr. Z. zu entwickeln. Von einer Sekunde auf die andere werde ich frei von Mitgefühl, spüre, wie das Gummi spannt, reißt, auf die Starrenden zurückschnellt. Das müssen Sie können, hat Frau Dr. Z. gleich zu Anfang gesagt, sonst werden Sie hier nicht lange bleiben.

Der Hausmeister fährt auf einer Schubkarre Müllsäcke aus der Küche heran und reiht sie vor dem Torhaus auf. Er trägt einen Trainingsanzug, denselben dunkelblauen Trainingsanzug mit Ärmelstreifen, wie ihn unser Patient W. besitzt. Der Müll sackt nach, bewegt sich, als ob er immer noch atmete, Müll in barocker Zurichtung, im Faltenwurf der schwarzen Plastiksäcke, in nobel schimmernden Draperien, die noch für ein paar Schritte an mir kleben wie ein Umhang, eine Schleppe, die ich nachziehe, Körperschleppe aus schwarzglänzenden Speckrollen und unförmig schwappenden Fettpolstern, fremde Last, aber ich gehe weiter, kein Bleiben im Fleisch, fremde Last, die meinem Körper Raum hinzufügt, Raum, der hinter mir liegt.

Ich gehe an der Blumenuhr vor dem Torhaus vorbei, die mit Buschwindröschen überwuchert ist und immer die gleiche Zeit anzeigt. Einzelne rote Tulpen ragen heraus wie ekstatische Momente, die ich vielleicht abpflücken und in ein Zeitungsblatt schlagen, meiner Schwester mitbringen würde, stünden wir nicht unter der Beobachtung des dreieckigen Auges an der Wand.

Europäische Gartenarbeit, sage ich zu Odilo, bedeutet am Ende: die Landschaftstapete durchstoßen und sich in die Düsternis wühlen.

Ich, sage ich zu Odilo, erarbeite mir eine neue Landschaft, eine Landschaft, von Leere durchsickert, von den vorhergehenden Generationen auf uns gekommen, eine Landschaft, die sich genau hier, in der Anstalt, verdichtet.

Unser altes Leben in Europa ist verschwunden. Alle bilden sich ein, wir würden hier eine ruhige Kugel schieben, aber die Welt dreht sich weiter in ihrer zermürbenden Routine, Vernunftkugel, die nur das Sichtbare gelten läßt, Pathoskugel, die zu schätzen weiß, daß sie immer nur halb zu sehen ist, Unruhekugel, von der die Vergangenheit abfällt wie Staub.

Ich aber ziehe meine Schleppe nach, Last der Erinnerung, die sich in Falten legt wie die Müllsäcke, massiger und schwerer wird. Ich aber gehe weiter, kein Bleiben im Reiche des Fleisches — aßen wir nicht das ganze Barock, das komplette Rokoko, aßen alles auf, die Schleppen und Wülste, hängenden Brüste, die müde Haut und die süßen Zweifel, die Zuckerhüte und schließlich die Teller… fremde Last, die ich mitziehe, doch, denke ich, doch du, meine Seele, nimm nicht die Last von mir, denn ich bin die Last.

Ich ziehe die Schleppe bedächtig voran — ich erarbeite mir eine neue Form, ich lege mich in Falten über die Landschaft, verliere mich in Abschweifungen, in einem gewissen Schwung, der über die Körpergrenzen hinausgeht, ich erscheine mir darin größer, mächtiger als sonst und bewege mich in diesem Scheinschwung weiter, ich falte mich in die Landschaft ein. In Falten gelegt, also zwiefältig, zweifelhaft auch die Bilder, an die ich mich erinnere, dicht aufeinandergestapelt zu einem Leporello, einem dicken dunklen Block –

Ich sehe meine Schwester vor einem Wildgehege in andächtiger Betrachtung der Rehe, sie wirft ihnen ein paar Kastanien zu, die ich aus meiner Hosentasche gezaubert habe, sieht zu, wie die Rehe die Kugeln in ihren weichen kastanienrunden Mäulern verschwinden lassen. Ich sehe mich selbst ein Eichhörnchen füttern. Es frißt mir Bucheckern aus der Hand, krallt sich mit seinen langgliedrigen Vorderpfoten an meinem Finger fest. Ich sehe die Eltern in ihren Jugendkleidern, erinnere mich an ihren gemeinsamen, eng umschlungenen, ausschweifenden Gang, höre sie sagen: Daran kannst du dich gar nicht erinnern. — Doch leidet man nicht, höre ich mich zu Odilo sagen, nur allzuoft an Erinnerungen, die nicht die eigenen sind? Seltsame Versehrungen, die wir auf nichts zurückführen können, ein wiederkehrendes Unbehagen, für das wir vergeblich Gründe suchen — vom Durchdringen eines Bildes werden wir mit einem anderen abgelenkt.