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Als Mila mit Pferdebildern konterte, tauschte ich das Pantherposter gegen einen Jaguar und den Löwen gegen einen Ferrari. Auch dies gab die Apotheke her. Ich frage mich manchmal, wie ich als Einzelkind durch die Pubertät gekommen wäre. So arbeitete ich mich an meiner Schwester ab, ich reagierte auf ihre Aktivitäten mit Gegenaktivitäten, genaugenommen mit kurzen Krankheiten, die mich in die Apotheke führten und die ich dann als Gegenaktivitäten auszugeben in der Lage war.

Linkrusta-Imitation

Im Werkraum in unserem Keller waren drei Wände kahl, auf der vierten prangte ein Stück Tapete mit goldenen Rankenornamenten, das Tante Sidonia aus der Wohnung ihres Dienstherrn mitgebracht hatte. Als die Pfarrerswohnung aufgelöst wurde, rettete sie diesen Tapetenrest und drängte ihn unseren Eltern auf. Unseren Eltern schien er für die eigenen Wohnräume zu altmodisch, wegwerfen wollten sie ihn nicht, schließlich klebten sie ihn in den Keller.

Die goldgrauen Schlingen umrankten die Ecken, umringten das Zimmer. Schimmernde Siegeskränze zwangen zu Anstand und Strebsamkeit, zu bedächtigem Handeln, gemessenem Gang. Wir schlichen auf Zehenspitzen vor dieser Tapete, wir senkten die Stimme.

Hier bereitete unser Vater seine Unterrichtsstunden vor, feilte seine Vorführstücke an der Werkbank zurecht, entwarf Tafeldiagramme, breitete maßstäbliche Zeichnungen aus.

Die Tapete hing wie übermäßiger Silberschmuck der Weihnachtstanne in seinem Rücken, wie das Lametta, das unsere Tante jedes Jahr neu aufgebügelt hatte, zu viele Facetten, zu viel Verzierung, zu oft wiederverwendet, Lametta, dessen unzählige Knicke längst stumpf geworden waren, lahmer Behang aus Andacht und Sparsamkeit, der längst nicht mehr aussah wie Silberfäden, sondern wie Eisen, wie Blei, ein mit Blei begossener Baum, der uns feinfädig-schwerfällig die Zukunft voraussagte, eine nach unten gerichtete Zukunft, von der Erdanziehungskraft bestimmt.

4 Glühbirnengleichnis

Man spricht vom Verlöschen des Lebenslichtes, man spricht davon, daß jemand in den Schatten eingeht, daß er ins Dunkel zurückkehrt, aus dem er kam. Als handele es sich bei diesem Dasein um einen Kurztrip durch Tag und Nacht, klar umrissen wie eine Kaffeefahrt, einsteigen in die Welt, aussteigen, und als bliebe der Tod, sobald wir eingestiegen sind, außerhalb.

In Milas Küche hing eine klassische Eßtischlampe, die das Licht nicht streut, sondern auf die Tischplatte ausrichtet. Die Lampe hing zu hoch, und sie hing nicht über dem Tisch, der an der Wand befestigt war und ausgeklappt wurde, die Mahlzeiten verliefen im Halbschatten. An diesem Abend entspannte mich das. Von schräg unten sah ich die klare Birne und ihren Glühdraht, es kam mir so vor, daß sie uns nicht im Blick hatte, und es schien mir besser so.

Mila nahm aus dem Kühlschrank eine schon angebrochene Flasche Cola und goß uns beiden ein Glas ein, als hätten wir einfach nur vor, gemeinsam Abendbrot zu essen. Sie hatte eine so selbstverständliche Art, diese Cola mit Eleganz zu servieren, mit langen kühlen Fingern die Gläser zurechtzurücken, ihr kinnlanges Haar zurückzuwerfen, sich dem Kühlschrank zuzuwenden, um den Rest zurückzustellen, daß ich das bereits etwas abgestandene Getränk, das sie mir vorsetzte, zu mir nahm wie einen edlen Aperitif. Dergleichen funktioniert vielleicht nur bei der eigenen Schwester, mit der man Kaufladen gespielt hat, Puppenküche und Restaurant. Mila jedoch war nicht zum Spielen aufgelegt, über ihrer Nasenwurzel stiegen senkrecht zwei Falten auf, ihre Mundwinkel bebten, das Zwielicht am Tisch zeichnete die maskenhafte Miene weich, als verschwände ihr wahres Gesicht dahinter im Halbdunkel. Ich hatte sie noch nie so angespannt gesehen. Von ihr ging eine unangenehme Energie aus, Wut, Ratlosigkeit und etwas wie ein schäbiger Triumph. Ich schob meinen Stuhl ein Stück zurück, duckte mich in die düsterste Ecke, bemühte mich hinter meinem Glas um Unauffälligkeit. Der braune Schaum platzte lahm und prickelte kraftlos in mein Gesicht, es würde kleben.

Gründlich ausgeleuchtet war in diesem Raum nur ein Teil des Fußbodens. Die Glühbirne blickte auf rotes Linoleum, darauf schwammen einige Brotkrümel, Teilchen von braunen Zwiebelschalen, die weißen leichten Hüllen von Knoblauchzehen, die jeder Lufthauch weiterbewegte, vor dem Mülleimer lag etwas Kaffeesatz.

Diese Dinge lagen und lagen nicht, sie wurden achtlos ausgestreut und regelmäßig aufgefegt, manchmal eine Mohrrübenscheibe, manchmal ein Tomatenstrunk. Aus der Sicht der Glühbirne, einäugig und unbeweglich, fehlte es diesem Bild an Tiefe, es kam einem abstrakten Gemälde nahe, in dem die Farben von größerer Bedeutung waren als die Form. Ein Bild, dessen Grundton gleich blieb, auf dem sich nur winzige Details, störrisch und flüchtig und wiederholbar, ab und zu verschoben.

Was die Glühbirne sah, waren Milas Bewegungen beim Aufsetzen des Teekessels, war ich, der ich den Raum verließ und wiederkam, war die Katze, die weißblitzend über die Dielen huschte und auf die Fensterbank sprang, ein Wischen nur, eine Unschärfe, die nicht stillhielt.

Was die Glühbirne sah, war eine Stubenfliege, die kopfüber am Lampenschirm entlanglief. Die Glühbirne sah aus nächster Nähe die behaarten Fliegenbeine, den borstigen Leib, das Schillern und Irisieren, die geäderten Flügel. Auf dem äußersten Rand trippelte die Fliege immer im Kreis, ein Endlospfad, auf dem sie mit ihren Haftfüßen festhing, eine ziellose Strecke, die sie mit mechanischem Eifer zurücklegte, automatische Fliegenflucht, Rennebahn.

Die Glühbirne sah nicht, daß sich die Wand in hell und dunkel teilte, als wäre sie in zwei verschiedenen Farben gestrichen. Die Horizontlinie, die die Bereiche trennte, schaukelte, wenn die Lampe leicht ins Pendeln geriet.

Auf dem Rand des Schattenfrieses, der die Decke und das obere Drittel der Küche verdüsterte, lief riesenhaft die Fliege. In allen Details, den staksigen Beinen, den Borsten, den monströsen Augen, übermäßig vergrößert, krabbelte ihr Schattenriß über die Wand und ließ seine plump-filigranen Glieder auf der einen Höhe rund um den Raum gleiten, nur an einer Stelle führte die Linie, leicht versetzt, über den Schrank; ein lächerlicher, wie ein Blechspielzeug aufgezogener und unermüdlich abschnurrender Fliegendämon, der uns kindlich-kriecherisch umkreiste, als wären wir der Mittelpunkt eines Karussells.

Meine Schwester goß Tee auf, sie senkte den Kopf über die Kanne, sie bemerkte nichts. Ich aber verfolgte das diabolisch geblähte Bild, es zog wieder und wieder seinen Kreis um uns, und die Geschwindigkeit schien zuzunehmen.

Mich schwindelte leicht, und gerne hätte ich meiner Schwester vorgeschlagen, das Deckenlicht zu löschen und statt dessen die Leuchtröhre über der Spüle anzuschalten, aber ich wagte sie nicht einmal auf das Schauspiel hinzuweisen, als dürfe nichts ihre Verschlossenheit, ihre Verstocktheit, ihren schweigenden Trotz unterbrechen. Der Tee war stark, er hatte zu lange gezogen, eine Assam-Sorte, die nach Kaffee schmeckte.

Als mir später bewußt wurde, daß wir den ganzen Abend nur schwarze Getränke zu uns genommen hatten, fand ich das passend und befriedigend. Wir hatten die fade Cola ausgetrunken, ein paar Dosen bitterer italienischer Pomeranzenlimonade, starken Kräuterlikör.

Auf der Fensterbank schlief die Nachfolgerin der alten Perserkatze, sie schnarchte leicht. Als die Erstkatze das Zeitliche gesegnet hatte, war ohne jede Rücksicht auf mich umgehend eine neue Katze angeschafft worden, die der alten aufs Haar glich. Mila hatte sich bei ihrem Umzug nach Berlin nicht von ihr trennen wollen. Ein Effekt war, daß ich unsere Eltern wieder entspannter besuchte, Mila jedoch seltener sah, als ich angemessen gefunden hätte. Meine Katzenallergie war nicht heftig, ich bekam keine Asthmaanfälle, aber sie beeinträchtigte mich. Wenn sich die Katze in der Nähe aufhielt, röteten sich meine Augen, mein Rachen begann zu jucken, ich nahm es meiner Schwester zuliebe in Kauf. Schlimmer war, daß Mila sich gewöhnlich über mich empörte, daß sie der Ansicht war, ich ließe meine Augen mit Absicht tränen, um sie ins Unrecht zu setzen. An diesem Abend war sie mit anderem beschäftigt. Sie sah mich nicht an.