Odilos Mutter hatte alle Personen benachrichtigt, die in seinem Adreßbuch standen. Die meisten Menschen, mit denen er Umgang gepflegt hatte, kannte sie nicht. Sie benachrichtigte sie pflichtgemäß, es interessierte sie nicht, wer an der Bestattung teilnehmen würde. Insgeheim erfüllte es sie wohl mit Groll, daß ihr Sohn überhaupt seine Zeit mehr und mehr mit Fremden verbracht hatte, sie versuchte, es vor sich selbst zu verbergen, und gab sich leutselig. Schon damals war sie ausgesprochen freundlich, ja übertrieben zugewandt gewesen, wenn ich Odilo traf, es schien mir oft, als halte sie sich für den eigentlichen Anlaß meines Besuchs, sie lachte und scherzte und brachte uns teures Gebäck, aber es war nur ein Manöver, ihre besitzergreifende Haltung von ihrem Sohn für kurze Zeit auf mich zu verschieben.
Ich konnte mir gut vorstellen, daß es ihr gelungen war, meine Schwester aufs höflichste zu informieren, mit ihr am Telefon zu sprechen und sie im selben Atemzug zu ignorieren, als sei Mila nur ein Gegenstand, etwas, das man abhakt. Meine Schwester hatte sich entsprechend während der Zeremonie in ein Ding verwandelt. Sie war in ein strenges schwarzes Kostüm gekleidet. Ich hatte nicht gewußt, daß sie eine so förmliche Gewandung überhaupt besaß, und nicht geglaubt, daß sie, die mit Kleidung so heikel war, dergleichen jemals anziehen würde. Aber es war ihr gelungen, damit in der Menge zu verschwinden, weder von mir noch von Odilos Mutter bemerkt zu werden. Und auch jetzt saß sie in diesem Kostüm am Tisch, als wäre sie nicht da, als sei dieser schwarze Stoff nur ein Stellvertreter, während sie selbst sich anderswo befand.
Ich bestellte beim asiatischen Restaurant um die Ecke ein Reisgericht für sie und ein Nudelgericht für mich, ich nahm die Lieferung an der Tür entgegen, wir lösten schweigend die Alufolie vom Styropor. War es meiner Schwester zuzumuten, an einem solchen Tag aus einer Wegwerfpackung zu essen? Überhaupt irdische Nahrung zu sich zu nehmen? Mit einer gewissen Ergebenheit stand ich nochmals auf, um Teller aus dem Schrank zu nehmen, aber Mila stocherte schon im Reis, schaufelte verbissen Gemüse in sich hinein, schob Fetzen von Hühnerfleisch zur Seite.
Die Geräusche, die Gerüche hatten die Katze geweckt. Sie erhob sich von ihrem Kissen, gähnte, buckelte, sprang von der Fensterbank und strich mir klagend um die Beine. Mein Hals schwoll an, ich bückte mich und tätschelte sie. Gleichzeitig bemühte ich mich, sie von mir wegzuhalten. Mila reichte ihr mechanisch ein Stück Geflügel unter den Tisch. Das zog die Katze von mir ab, wenn ich auch nicht gutheißen konnte, daß sich die menschlichen und tierischen Mahlzeiten auf diese Weise vermischten. Aber ich hatte, solange ich denken konnte, zu diesem Thema geschwiegen.
Gewöhnlich stellt sich nach einer Beerdigung Erleichterung ein, weil man selbst noch lebt und auch noch länger weiterzuleben gedenkt; eine vom ärztlichen Standpunkt aus gesehen völlig normale und auch gesunde Regung, die meiner Schwester keineswegs fremd war. Wir hatten teilgenommen, als man die Großeltern mütterlicherseits, unsere Großtanten und den Cousin unseres Vaters zu Grabe getragen hatte, Mila war immer gefaßt geblieben. Als Vierjährige hatte sie sich einmal auf ihren Stuhl gestellt und in die Trauergesellschaft gerufen: Et kütt wie et kütt. Und auf diese Einstellung hatte ich mich seither bei ihr verlassen können.
Jetzt: Befriedigung, aber keine Erleichterung, Schmerz, aber keine Trauer, eine eigenartige Intimität mit dem Tod, die ich abstoßend fand.
Ich selbst fühlte mich erleichtert. Ich war erstaunt, in welchem Ausmaß ich mich erleichtert fühlte. Nicht nur, weil wir die Zeremonie hinter uns gebracht hatten. Sondern als wäre eine Last von mir abgefallen, deren Existenz ich bisher, weil sie dauerhaft war, nicht bemerken konnte.
Aber war Erleichterung die richtige Bezeichnung? Eine kurze Erleichterung, abgelöst von einer Empfindung des Verlassenseins, auch diese nur kurz — ich hatte Odilo in den letzten Jahren so selten gesehen, daß es mir schwerfiel, an seine endgültige Abwesenheit zu glauben.
Meine Schwester umklammerte mit beiden Händen eine Dose Bitterorangenlimonade, die Katze leckte sich die Pfoten, strich über ihre Schnurrhaare und begab sich auf Milas Schoß, um sich dort einzurollen und weiterzuschlafen.
Es war normalerweise nicht ihr Stil, Dosenlimonade im Kühlschrank zu lagern. Sie mied Verpackungsabfall, sie trank Leitungswasser und Tee, ich fragte mich, woher die Dosen kamen, die man nur in Italien zu kaufen bekam, ich fragte mich, warum ihre Adresse in Odilos Adreßbuch stand.
Mein Freund — mein Widersacher? Es erboste mich, daß er meine Schwester offenbar näher kannte, wie es unsere selige Großmutter formuliert hätte, sie gekannt hatte, ein Skandal für mich, ein Affront gegen mich, eine Überschreitung von Grenzen, die ich zwar nicht gesetzt, aber deren Einhaltung ich vorausgesetzt hatte. Meine persönlichen Grenzen: Hingen sie nicht mit denen meiner Schwester zusammen? War er mir nicht, und auch noch ohne mein Wissen, zu nahe getreten? Zustände wie vor hundert Jahren, als viele die Schwester ihres besten Freundes ehelichten, nicht mangels anderer Gelegenheit, jemanden kennenzulernen, vielmehr um sich durch diesen Schritt auch der besonderen Verbundenheit des Freundes zu versichern, sich mit dessen Familie zu vereinigen, also in diesem Falle auch mit mir. Ein heimtückischer Übergriff, eine Zumutung. Körperlich bestand zwischen Mila und mir keine Ähnlichkeit, wir hatten keine gemeinsamen Merkmale, als seien alle Erbanlagen gerecht und ohne Wiederholung zwischen uns aufgeteilt worden. Mila dunkelhaarig, dunkeläugig, beweglich und extrovertiert, ich blaß und rotblond, empfindlich, auf Innenschau eingestellt.
Was mochte sie an Odilo gefunden haben, wenn man vorerst das Kriterium, daß er mein Freund war, außer acht ließ? Er war durchaus kein schöner Mann, nicht auf landläufige Art anziehend, er war ein ewiger Junggeselle und ein Muttersöhnchen, er war konservativ und verklemmt, er war Karrierist und Einzelkind, was mochte sie an ihm gefunden haben, wenn nicht, daß er für sie, wie für alle anderen, unerreichbar war?
Ein nicht direkt unerwünschtes, aber doch nicht erhofftes Kind, empfangen zu einer Zeit, da Eleonore Leonberger an ihre Fruchtbarkeit nicht mehr glaubte, ein Spätling. Er lebte mit seiner Mutter in einem Vorstadthaus in Klinkeroptik, mit schmiedeeisernen Fenstergittern und einem Treppenhaus aus gelben Glasbausteinen. Im Haus hatte es ehemals ein Geschäft gegeben. Das Ladenlokal war zum Wohnzimmer umgewandelt worden, man hatte das Schaufenster, das etwas hervortrat, mit Gardinen verhängt, und auf der überbreiten Fensterbank zog seine Mutter Kakteen und Azaleen und Orchideen, Pflanzen mit Doppel-E.
Er war als Kind bereits erwachsen gewesen, er hatte seine Jugend übersprungen. Von Kindern und Jugendlichen fühlte er sich in Frage gestellt. Er sah an ihnen vorbei, als fürchte und wünsche er ihre Aufmerksamkeit.
Odilo trug zu Hause Strickjacken wie der Kanzler, er war jemand, von dem man sich vorstellen konnte, daß er auch mit vierzig noch bei seiner Mutter wohnte, nachts, wenn sie zu Bett gegangen war, vor dem Fernseher saß und onanierte, auf eine eigenartige Weise Hausherr und auf eine ebenso eigenartige Weise zurückgeblieben; er suchte das Stockfleckig-Unbewegliche seiner Herkunft, die desolate Situation, seiner Mutter der Gattenersatz zu sein, mit Arroganz zu kompensieren.