Er trat an das Fenster, zog die dasselbe verhüllende Gardinen weg und blickte hinaus. Er sah einen viereckigen Hof unter sich, welcher von Gasflammen erleuchtet war.
„Das ist unangenehm. Hier im Hof hat der Wagen nicht gehalten; hier kann auch Martin sich nicht befinden. Es ist mir also unmöglich, ihm das Zeichen zu geben, außer ich wage es nach rückwärts –“
Er hielt inne. Es klopfte leise, ein-, zwei-, dann dreimal. Das war das verabredete Zeichen. Er öffnete. Die Dame trat ein. Sie war verschleiert.
„Sie haben sich gelangweilt, Monsieur?“ fragte sie.
„Die Hoffnung, Sie wiederzusehen, hat mir nicht Zeit dazu gelassen, Madame“, antwortete er.
„Mich? Ich meine, daß Sie eine andere erwartet haben.“
„Allerdings. Doch wußte ich ja, daß auch Sie kommen würden.“
„Nun, das ist eher geschehen, als ich dachte. Ich habe Sie um Verzeihung zu bitten, Monsieur. Die Dame, welche Sie zu sehen wünschte, ist plötzlich anderweitig in Anspruch genommen worden –“
„Jedenfalls von einem Herrn, welcher liebenswürdiger ist als ich“, scherzte er.
„Davon ist keine Rede. Aber das beabsichtigte Rendezvous kann heute leider nicht stattfinden. Ich habe den Auftrag erhalten, Sie zurückzubringen.“
„Und wenn ich nun zu bleiben wünschte?“
„Das wird Ihr Wunsch nicht sein. Sie werden als Kavalier den Befehl einer Dame respektieren.“
„Das werde ich allerdings. Aber ich werde auch ein zweites.“
„Was?“
„Sie an die Garantie erinnern, welche Sie mir geboten haben.“
„Wie grausam. Ich bin nicht imstande, Ihnen die Dame zu ersetzen, auf deren Anblick Sie nun für heute leider zu verzichten haben.“
„Ich bin überzeugt, daß diese Dame die Verdienste nicht besitzt, welche ich an Ihnen bemerke. Wir haben von einem Schadenersatze gesprochen, und ich muß sehr darauf dringen, auf ihn nicht verzichten zu müssen.“
Sie ergriff seine Hand, drückte dieselbe in der ihrigen und antwortete:
„Ich will Ihnen gestehen, daß ich nicht ungern Wort halten würde, muß Sie aber doch abschlägig bescheiden. Auch ich bin plötzlich in einer Weise in Anspruch genommen, daß ich keine Minute für die Erfüllung meines Versprechens übrig habe. Es bleibt mir kaum Zeit, Sie zurückzubringen.“
„Nach meiner Wohnung?“
„Nicht ganz so weit. Sie werden bereits vorher meinen Wagen verlassen. Aber sagen Sie, ob vielleicht der morgige Abend Ihnen gehört?“
„Natürlich. Er ist mein Eigentum.“
„Darf ich Sie da abholen?“
„Ja.“
„Sie werden also mit mir kommen?“
„Mit dem allergrößten Vergnügen, Madame.“
„Nun gut; so folgen Sie mir jetzt!“
Sie führte ihn nach dem engen Korridor zurück, wo sie ihm die Augen wieder verband. Einige Augenblicke später saß er neben ihr im Wagen, welcher sich sogleich in Bewegung setzte. Sie lehnte sich an ihn, sie schien wohl eine Liebkosung von ihm zu erwarten, doch verhielt er sich vollständig teilnahmslos gegen sie. Da nahm sie ihm das Tuch wieder von den Augen, indem sie sagte:
„Jetzt dürfen Sie wieder sehend werden. Sagen Sie, ob Sie den Ort, an welchem sie sich befunden haben, wiederfinden würden?“
„Vielleicht, Madame.“
„Ah! Sie ahnen, wo Sie gewesen sind?“
„Ja.“
„Nun, wo?“
„Erlauben Sie, Ihre Frage unbeantwortet zu lassen. Dieses Schweigen wird Ihnen beweisen, daß ich würdig bin, morgen dahin zurückkehren zu dürfen, wo heut vergeblich die Erfüllung einer süßen Hoffnung erwartete.“
„Sie haben recht. Ich bin überzeugt, daß Sie nicht ahnen, wo Sie gewesen sind, aber es ist für alle Fälle besser, gar nicht davon zu sprechen. Also auf Wiedersehen für morgen abend! Bitte, steigen Sie hier aus.“
Sie waren an einer Straßenecke angelangt. Sie zog an der Schnur; der Kutscher hielt, und Belmonte verließ den Wagen, nachdem er mit einem Handkuß von ihr Abschied genommen hatte. Er stand noch da und blickte der davonrollenden Equipage nach, als ihn jemand auf die Schulter klopfte. Er drehte sich rasch um.
„Ah, Martin!“ rief er. „Du hier? Wie kommst du an diese Straßenecke?“
„Grad so wie Sie, Herr Weinagent.“
„Wie denn?“
„Nun, per Equipage.“
„Du hast einen Wagen genommen?“
„Sogar den Ihrigen.“
„Komm. Man beginnt hier, aufmerksam auf uns zu werden.“ Und vorwärtsschreitend, erkundigte er sich weiter:
„Ich glaube gar, du hast hinten aufgesessen.“
„So ist es allerdings. Lieber freilich wäre es mir gewesen, ich hätte darin gesteckt. Ich bin verteufelt geschüttelt worden.“
„Aber wo hast du das Pferd?“
„Das Pferd? Hm. Denken Sie denn, daß ich so dumm sein werde, zu Pferd Wache zu halten? Als Sie mit der Dame hinter der Tür verschwanden, habe ich das Viehzeug durch einen Dienstmann zu seinem rechtmäßigen Eigentümer bringen lassen. Das macht zwar eine Geldausgabe, aber ich denke, daß Sie mir wenigstens die Hälfte zurückerstatten werden.“
„Unsinn; aber weißt du nun, wohin man mich geschafft hat?“
„Natürlich!“
„Nun?“
„Ahnen Sie selbst es nicht?“
„Ja. Aus verschiedenen Anzeichen schließe ich, daß ich in den Tuilerien gewesen bin.“
„Richtig! Der Wagen hielt an einer schmalen Nebentür. Man schien mit Absicht dort einige Gasflammen verlöscht zu haben.“
„Es gelang dir also, mir zu folgen?“
„Natürlich. Das Pferd gab ich fort; ich selbst aber blieb zurück, trotzdem ich mir sagte, daß ich Ihnen wohl von keinem Nutzen sein könne. Die Tuilerien sind nicht der Ort, an dem ich Ihnen Rettung bringen könnte, wenn man es übel mit Ihnen meinte.“
„Das ist wahr. Dann bist du hinten aufgestiegen?“
„Ja. Ich habe es gemacht wie ein echter Berliner Schusterjunge. Sie sehen, was ich für Sie unternehme. Nutzen freilich habe ich nicht davon. Die Küsse haben Sie erhalten.“
„Da täuschest du dich gewaltig.“
„Täuschen? Ist's nichts gewesen?“
„Nein. Es gab eine unerwartete Abhaltung, und ich mußte gehen, wie ich gekommen war.“
„Das ist hübsch! Das kann mir gefallen. Da bin ich doch ein anderer Kerl. Ich bin anders gegangen als ich gekommen bin. Ich kam zu Pferd und ging per Equipage. So haben Sie Ihre Dame wohl gar nicht zu sehen bekommen?“
„Nein. Aber das Versäumte soll morgen nachgeholt werden.“
„Sapperment! Ich denke, morgen sind wir über alle Berge.“
„Das sind wir auch. Ich habe keine Zeit und auch keine Lust, dieses Abenteuer fortzusetzen.“
„Schön. So retten wir unsere Haut. Aber, haben Sie denn nicht wenigstens eine Ahnung, wer die Dame sein mag?“
„Hm! Davon will ich jetzt nicht sprechen, am allerwenigsten aber hier auf der Straße. Laß uns eilen. Ich habe zu schreiben und neues zu berichten. Hast du von deinem Schwälbchen vollständigen Abschied genommen?“
„Was nennen Sie Abschied? Ich möchte am liebsten gleich in diesem Augenblick wieder hin zu ihr; aber was nicht sein muß, das braucht nicht zu sein. Sie schreiben, und ich packe ein. Dann sind wir mit dem Morgen fertig.“ –
Am Vormittag begab sich Belmonte zum General Latreau. Er wurde von diesem allein empfangen und erhielt den versprochenen Brief an den Kommandanten von Metz. Latreau teilte ihm mit, daß seine Tochter sich heute nicht wohl fühle und daher das Zimmer hüte, doch erwarte sie, daß er sich zu ihr verfügen möge, damit es ihr möglich sei, ihm nochmals Dank zu sagen.
Belmonte verabschiedete sich also von dem Grafen und begab sich nach Ellas Zimmer, wo er sofort angemeldet wurde.
Er hatte erwartet, sie als Patientin zu sehen. Aber sie stand, als er eintrat, vollständig angekleidet am Fenster, und ihr Aussehen war ein so gutes, als ob sie die letzten Tage vollständig überwunden habe.