Ihre Augen glänzten ihm warm entgegen. Sie reichte ihm das Händchen, welches er an seine Lippen zog und sagte:
„Sie kommen, um zu gehen, Monsieur; aber ich hoffe, daß wir uns nicht für immer adieu sagen!“
„Ich würde glücklich sein, wenn das Geschick mir erlaubte, mich Ihnen noch einmal vorstellen zu können“, antwortete er in möglichst gleichgültigem Ton.
„Hoffen wir, daß uns diese Erlaubnis zuteil werde. Und sollte es nicht sein, ich meine, nicht persönlich, so bitte ich doch wenigstens um die Erlaubnis, Ihnen diese andere Gelegenheit zu geben, mich zu sehen. Werden Sie die Güte haben, dies kleine Zeichen der Erinnerung von mir anzunehmen?“
Sie löste eine Kette von ihrem Hals. An derselben hing ein kostbares, mit Diamanten besetztes Medaillon. Sie öffnete es und hielt es ihm entgegen. Er erblickte ihr Bild, wunderbar dem Original ähnlich, auf Elfenbein gemalt.
Diese Gabe überraschte ihn so, daß er im ersten Augenblick kein Wort fand, seinem Gefühl den rechten Ausdruck zu geben.
„Gnädige Komtesse“, sagte er dann, indem er einen Schritt zurücktrat. „Einer solchen Gnade bin ich nicht wert!“
„Nicht? Sie, der Retter meines Lebens?“
Sie hatte ihre Augen groß zu ihm aufgeschlagen. Sie stand vor ihm, nicht, als ob sie ihm die Gabe biete, sondern als Bittende. Er sah, daß seine Worte ihr weh taten.
„Wollen Sie mir wirklich meine Bitte nicht erfüllen?“ fragte sie, ihm Kette und Medaillon entgegenhaltend.
„Das ist zu kostbar, viel zu kostbar.“
„Dieser Steine wegen, Monsieur Belmonte? Pah! Doch, wie Sie wollen. Sprechen wir nicht mehr davon.“
Wie gern hätte er ihr gesagt, daß die Diamanten ihm nichts, gar nichts wert seien gegen das Miniaturporträt! Sie hatte sich, halb betrübt und halb schmollend abgewendet. Es lag in diesem Augenblick etwas in ihrem schönen Angesicht, was mehr, vielmehr als eine bloße Enttäuschung bedeutete. Es überkam ihn so wunderbar; er wußte nicht, woher er den Mut nahm, aber er griff in die Tasche, zog ein kleines, zierliches Portefeuille hervor und sagte:
„Gnädige Komtesse, ich darf Sie nicht beleidigen; ich will Ihnen gehorchen; aber haben Sie die Gnade, mir die Bedingung zu gewähren, daß auch mein Bild bei Ihnen bleiben darf.“
Da zuckte es hell über ihr Gesicht. Sie wendete sich ihm schnell wieder zu und sagte:
„Sie haben auch Ihr Bild? Eine Fotografie? Gut, Monsieur, tauschen wir.“
Sie nahm die Fotografie aus seiner und er das Medaillon aus ihrer Hand. Er steckte das letztere zu sich und sagte:
„Ich wage es nur, weil Sie es befehlen, Mademoiselle. Macht diese reiche Gabe es mir doch fast unmöglich, eine Bitte vorzutragen, welche ich Ihnen zu Füßen legen wollte.“
„Sie haben einen Wunsch? Schnell, lassen Sie mich denselben wissen.“
„Er betrifft die Braut meines Dieners –“
„Ah, dieser brave Mann hat eine Braut? Ist sie hier in Paris?“
„Ja. Hier auf dieser Karte ist ihre Wohnung angegeben. Sie ist ein liebes, braves Mädchen und hat auf der Welt bisher niemanden gehabt als einen Bruder, auf welchen sie sich nicht verlassen kann. Man spricht von Krieg; es ist ihr Angst. Gnädige Komtesse, ich wage viel, aber ich möchte für Alice Ihren Schutz erflehen.“
Sie nickte ihm freundlich zu und antwortete:
„Gern, sehr gern! Sie soll ihn haben. Ich werde so bald wie möglich versuchen, mit ihr zu sprechen. Und bei dieser Gelegenheit will ich nicht versäumen, Ihnen eine Mitteilung zu machen, welche sich auf die Kellnerin Sally bezieht. Nicht wahr, sie war eine Art von Schützling Ihrerseits?“
„Fast möchte man es so nennen. Ich bat sie um ihre Hilfe, als es galt, Sie den Händen des Wirtes zu entreißen, und versprach ihr –“
„Ich weiß, ich weiß! Papa hat dafür gesorgt, daß sie ihren Bruder aufsuchen kann, um ihm Gelegenheit zu einer Verbesserung seiner Existenz zu bieten.“
„Ich danke von ganzem Herzen, gnädige Komtesse! So sind mir zwei Wünsche erfüllt anstatt des einen. Gott segne Sie! Gott segne Sie!“
Er ergriff ihr kleines, wunderbar schönes Händchen und drückte dasselbe an seine Lippen. Sie entzog ihm dasselbe nicht, obgleich der Kuß etwas längere Zeit in Anspruch nahm, als gewöhnlich gewährt zu werden pflegt. Dann ging er. Sie blickte ihm nach, als er über die Straße ging, und ein tiefer, tiefer Seufzer hob ihren Busen. Sie wußte selbst nicht, warum sie die Hand, in welcher sie seine Fotografie noch hielt, so fest und beschwichtigend auf ihr Herz drückte.
SIEBENTES KAPITEL
Der Dicke und der Dünne
„Station Tharandt! Eine Minute Aufenthalt!“
So riefen die Schaffner, indem sie eilfertig die Türen der Coupés öffneten.
„Bier, Cognac, belegte Semmeln!“
So rief der Kellner, welcher einen Korb mit gefüllten Gläsern längs des Zugs hin balancierte.
Aus nebeneinanderliegenden, aber getrennten Coupés stiegen zwei Reisende aus. Der eine war hoch und kräftig gebaut, enganliegende Hosen, ein Samtjacket und einen sogenannten Künstlerhut. Der andere war kurz und ungewöhnlich dick, trotzdem er, gerade wie der andere, kaum mehr als sechs- bis achtundzwanzig Jahre zählen mochte. Auf seinem Haupt saß ein riesiger Kalabreserhut, dessen Krampe hinreichte, eine ganze Familie gegen Regen oder Sonnenstich zu beschützen.
Der Hohe drehte sich in das Coupé zurück und brachte aus demselben eine ziemlich große Mappe und einen Regenschirm zum Vorschein. Der Dicke wendete sich ebenso, als seine Füße den Erdboden erreicht hatten, nach dem seinigen zurück und zog eine riesige Mappe und einen Regenschirm hervor. Beide drehten sich, da es in diesem Augenblick zum dritten Male läutete, hastig um, und bei dieser Gelegenheit fuhr der Hohe dem Dicken mit dem Regenschirme in das Gesicht und der Dicke dem Hohen mit dem seinigen in den Leib.
„Herr, nehmen Sie sich in acht!“ donnerte der mit dem Künstlerhut.
„Ich bin dreimal so dick wie Sie“, antwortete der mit dem Kalabreser, „ich bin also dreimal leichter zu bemerken wie Sie; folglich sind Sie es, der nicht achtgegeben hat.“
„Schweigen Sie! Sie sind ein Esel!“
„Ja, ich bin ein dicker und Sie ein langer; das ist so klar wie Pudding.“
Sie blickten einander grimmig in die Gesichter. Da stieß die Maschine ihren schrillsten Pfiff aus; die Wagen setzten sich in Bewegung; die beiden Fremden, welche sehr nahe am Zug standen, sprangen erschrocken zurück und rissen, der eine von rechts und der andere von links, den Kellner um, welcher soeben beabsichtigt hatte, an ihnen vorüberzueilen. Gläser, Flaschen, Teller, belegte Semmeln, alles lag auf der Erde.
Die beiden Reisenden waren zunächst sprachlos vor Schreck und Zorn; sie blickten einander wütend an. Der Kellner raffte sich schnell auf und rief:
„Meine Herren, dieses Malheur haben nur Sie angerichtet. Sechs Glas Lagerbier, fünf Cognacs, vier bestrichene Brötchen mit Schinken und Wiegebraten, nebst Flaschen, Gläsern und Tellern macht einen Taler fünfundzwanzig Groschen und neun Pfennige.“
Er streckte bei diesen in unfehlbarem Ton gesprochenen Worten beide Hände aus, um die Summe möglichst bald in Empfang zu nehmen.
„Sechs Glas Lagerbier?!“ rief der Künstler.
„Fünf Cognacs?!“ schrie der mit dem Kalabreser.
„Vier Brötchen?!“
„Nebst Schinken und Wiegebraten?!“
„Jawohl, meine Herren“, antwortete der Kellner. „Die Herrschaften sind Zeugen, daß Sie mich umgerissen haben.“
Er deutete dabei auf das Publikum, welches sich im Augenblick an dem Unglücksort versammelt hatte. Ein allgemeines Kopfnicken und Beifallsmurmeln gab ihm recht.
„Ich war es nicht!“ sagte der Hohe.
„Und ich noch viel weniger“, meinte der Dicke. „Mein Bauch hat keine Ecken, an denen Kellner hängen bleiben.“