Die Generalin hatte ihm lächelnd nachgeblickt und dabei an ihre Begleiterin die Frage gerichtet:
„Konnte ich es ihm abschlagen, liebe Emma?“
„Nein, liebe Tante. Er ist ein guter Mensch, wenn auch ein sehr mittelmäßiger Geist.“
„Du hast ihn erobert.“
„So ist der heutige Tag der glücklichste meines Lebens“, scherzte Emma von Königsau. „Aber, was sagst du zu dem andern?“
„Der erste Augenblick ist oft entscheidend, wenn es sich um die Beurteilung eines Menschen handelt. Hier möchte ich diese Regel nicht gelten lassen. Er macht auf mich den Eindruck eines ungewöhnlichen Mannes.“
„Diesen Eindruck hat er auf mich nicht hervorgebracht. Ich halte ihn im Gegenteil für einen sehr gewöhnlichen Menschen. Ist dir nichts an ihm aufgefallen?“
„Was meinst du?“
„Seine Ähnlichkeit mit Fritz.“
„Mit Fritz? Welchen Fritz meinst du?“
„Fritz Schneeberg, den Diener meines Bruders.“
„Ich habe diesen Fritz nur einmal höchst vorübergehend gesehen. Es ist möglich, daß er öfters in meine Nähe gekommen ist, aber ich habe ihn nicht bemerkt, oder nicht beachtet. Aus der Ähnlichkeit mit Fritz darfst du aber doch nicht schließen, daß dieser Maler ein gewöhnlicher Charakter ist.“
„Geist hat er nicht. Er hat ja nicht einmal ein Wort gefunden, sich wegen des Schrecks zu entschuldigen, den er uns bereitet hat. Dieser dicke Hieronymus hat doch wenigstens einige drollige Witze darüber gemacht.“
„Und dennoch ist mir der andere außerordentlich sympathisch. Vielleicht ist es deshalb, weil – ah, weißt du, mein Mann fast ganz dasselbe Äußere hatte, als er in diesen Jahren war?“
„Wirklich? Nun, dann ist es erklärlich, daß du ihn verteidigst. Da ist die Droschke, liebe Tante!“
Sie stiegen ein und bedankten sich bei dem Maler.
„Hotel de Saxe!“ befahl die Generalin.
Hieronymus machte eine tiefe Verneigung und blickte dem Wagen ein Weilchen nachdenklich nach.
„Ein famoses Mädchen“, brummte er. „Wie sie sich wohl als Frau Hieronymus Aurelius Schneffke ausnehmen würde? Emma heißt sie? Hm, kein übler Name! Emma heißt: die Emsige, die Fleißige. Sie könnte mir die Farben reiben.“
Da erhielt er einen Schlag auf die Schulter.
„Donnerwetter“, rief er, „welcher Flegel ist denn – ah, Sie sind es, Kollege! Holen Sie ein anderes Mal etwas weniger aus, wenn Sie mich liebkosen wollen.“
„Und Sie, laufen Sie nicht jedem Lärvchen nach, wenn Sie in meiner Gesellschaft bleiben wollen“, erwiderte Haller.
„Nennen Sie etwa dieses Fräulein Emma eine Larve?“
„Wen ich meine, das ist gleichgültig. Hier habe ich eine Droschkennummer. Lassen Sie uns nach dem Hotel de Saxe fahren?“
„Das werden wir vielleicht bleiben lassen.“
„Warum?“
„Die beiden Damen wohnen dort.“
„Ah. Fürchten Sie sich vor ihnen? Ich denke, Sie sind in die Vorleserin verliebt?“
„Verliebt? Pfui Teufel, abermals dieser ungeeignete Ausdruck. Ihr Bild ist siegreich zu den Pforten meines Herzens eingezogen. So drücke ich mich aus. Ich möchte zwar höchst gern in ihrer beglückenden Nähe weilen, aber ich habe sehr triftige Gründe, sie einstweilen noch in zarter Schamhaftigkeit zu fliehen.“
„So? Welche Gründe wären das?“
„Erstens die Art und Weise, in welcher die Bekanntschaft angeknüpft wurde, und zweitens mein gegenwärtiger äußerer Adam. Sehen Sie mich einmal an.“
„Nun, was ist an Ihnen zu ersehen?“
„Diese verteufelte Rutschpartie hat meinen Anzug bedeutend mitgenommen, und ich habe augenblicklich nicht über Millionen zu verfügen, so daß ich mir einen neuen Gottfried kaufen könnte. Ich muß warten, bis ich nach Berlin zu meinem Kleiderschrank komme. Bis dahin muß ich die Sehnsucht meines liebenden Herzens in die dickste Pappschachtel einstecken.“
„Ich glaube, der Kleiderschrank wird Ihnen auch keine Station zum Glück werden. Diese Emma sah mir gar nicht so aus, als ob sie sich von einem Krebs- und Spinnenmaler erobern ließe; hier ist unsere Nummer. Steigen wir ein, wir fahren nach dem Hotel Stadt Rom.“
Dort angekommen, ließen sie sich zwei nebeneinanderliegende Zimmer geben. Haller hatte den Gedanken, in das Theater zu gehen und ließ sich zwei Billets holen.
„Was wird gegeben?“ fragte der Dicke.
„Die Jungfrau von Orleans.“
„Ich werde mitgehen, obgleich mir die Jungfrau von Tharandt bedeutend lieber ist. Übrigens habe ich mich unterwegs im Coupé schauderhaft über Sie geärgert.“
„Warum?“
„Sie haben keinen Laut von sich gegeben. Was müssen die beiden Damen von mir denken.“
„Von Ihnen? Wenn ich schweigsam bin, ist das doch meine, nicht aber Ihre Sache.“
„O doch! Ein Künstler, welcher sich in der Gesellschaft eines Menschen befindet, welcher nicht reden kann, ist selbst auch blamiert.“
„Pah! Sie hatten die Unterhaltung so geistreich eingeleitet, daß ich Ihnen auch den ganzen Ruhm und Genuß lassen wollte.“
„Das läßt sich hören. Die Generalin ist ein Prachtfrauenzimmer. Ich bin überzeugt, daß meine Persönlichkeit einen bedeutenden Eindruck auf sie gemacht hat.“
„Natürlich. Ihre Persönlichkeit wiegt ja schwer genug.“
„Einen Zentner achtundneunzig Pfund. Das hat Nachdruck. Wenn nur diese Emma nicht verschleiert gewesen wäre. Ich bin aber doch so glücklich gewesen, zu bemerken, daß sie einige bewundernde Blicke auf mich geworfen hat. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, so wird sie am längsten Vorleserin gewesen sein. Wissen Sie, was ich jetzt tun werde?“
„Dummheiten werden Sie machen, wie es ja alle Verliebten zu tun pflegen.“
„Oho, gerade recht pfiffig werde ich sein. Ich gehe nämlich jetzt nach dem Hotel de Saxe und suche zu erfahren, wie lange die Damen noch da logieren.“
„Dieser Gedanke ist allerdings nicht schlecht. Gehen Sie und fangen Sie es gescheit an.“
„So gescheit wenigstens wie jeder andere. Ein Trinkgeld tut ja Wunder.“
Er ging. Haller trat an das Fenster und blickte nachdenklich hinab. Er sah Leute unten gehen und dennoch sah er sie nicht. Sein Geist war drüben im Hotel de Saxe.
„Was ist's nur“, fragte er sich, „was mich gezwungen hat, mein Auge immer wieder auf die Generalin zu richten. Mir war es ganz, als ob ich sie kenne, als ob ich sie bereits sehr oft gesehen habe. Unbegreiflich. Es gibt Personen, welche man lieben muß vom ersten Augenblick an. So geht es mir mit dieser Dame, für die ich viel, sehr viel tun könnte, um nur mit einem freundlichen Lächeln belohnt zu werden.“
Er begann jetzt, nachdenklich im Zimmer auf und ab zu schreiten.
„Und die andere“, fuhr er fort, „ist wirklich wert, geliebt zu werden. Wäre sie nicht bloß Vorleserin und wäre ich nicht bereits verlobt, so könnte sie mir gefährlich werden. Ich weiß wirklich nicht, ob Ella von Latreau schöner ist als sie.“
Nach einer Weile kehrte der Dicke zurück. Er hatte den Portier im Hausflur des Hotels getroffen und die Unterhaltung mit einem Achtgroschenstück eingeleitet. Der Portier hatte das Geldstück genau angesehen und dann gesagt:
„Hm! Was soll ich damit?“
„Es gehört Ihnen. Ich schenke es Ihnen.“
„Daran liegt mir nicht sehr viel, mein Herr!“
„Was? An einem Achtgroschenstück liegt Ihnen nichts? So ein Portier ist mir doch in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Das ist so sicher wie Pudding.“
„Aber mir sind desto mehr solcher Achtgroschenstücke vorgekommen. Sie gelten nichts.“
„Nicht? Das wäre!“
„Hier, sehen Sie es sich an. Das stammt noch von dazumal aus dem Krieg, wo man aus Not mehr Kupfer als Silber zu dem Geld nahm.“
„Zeigen Sie einmal her. Wirklich, Sie haben recht. Na, das ist ein Versehen. Hier haben Sie ein anderes. Ich habe Sie nicht betrügen wollen.“