Madelon aber ahnte nicht, daß die Gräfin sich ganz allein in Wien befand. Während der Sohn derselben in geheimer Mission nach Paris gegangen war, mußten selbst seine nächsten Bekannten annehmen, daß er sich bei seiner Mutter befinde.
„Also vor kurzer Zeit waren Sie in Paris?“ fuhr Madelon fort. „Wie beneide ich Sie!“
„Um diesen Aufenthalt in Paris beneiden Sie mich? Fühlen Sie sich hier in Berlin vielleicht unglücklich?“
„O nein, nein!“ antwortete sie rasch. „Die Worte, welche ich sprach, gaben nur dem längst gehegten Wunsch Ausdruck, einmal die Hauptstadt meines Vaterlandes wiederzusehen. Ich befinde mich hier so wohl, wie es unter den gegebenen Verhältnissen nur immer möglich ist.“
„So ist die Frau Gräfin eine freundliche Dame?“
„Sie ist mir viel mehr Mutter als Herrin und hält mich ganz und gar wie ein Glied der gräflichen Familie. Aber auch außerhalb derselben habe ich Freundinnen gefunden, welche es mich fast vergessen lassen, daß ich eine Waise bin.“
„Sie armes Kind, so haben Sie also keine Eltern mehr?“
„Daß ich keine Mutter mehr habe, das weiß ich; möglich aber ist es, daß mein Vater noch lebt. Ich habe ihn nie gesehen.“
„Das läßt ja auf ganz ungewöhnliche Verhältnisse schließen!“
„Allerdings. Ich spreche nicht gern davon, denn es betrübt mich stets, an das Unglück meiner armen Mutter denken zu müssen. Aber Ihr Gesicht ist so offen und ehrlich, so zutrauenerweckend, daß ich schon einmal das Schweigen brechen darf.“
Diese Worte berührten ihn angenehm; sie bewiesen ihm von neuem, daß die Sprecherin ihm ihr Vertrauen schenkte.
„Es ist nämlich einmal ein Herr von altem Adel gewesen“, erzählte sie, „dessen Herz nichts anderes gekannt hat als die Vorrechte seines Standes. Sein Sohn aber ist das Gegenteil des Vaters gewesen. Er hat gewußt, daß alle Menschen als Individuen gleichen Wert besitzen. Er hat sich also durch die Vorurteile seines Standes nicht abhalten lassen, einer Bürgerlichen seine Liebe zu schenken.“
„Ah, ich ahne, diese bürgerliche Dame ist Ihre Mutter.“
„Ja, Sie haben richtig geraten. Vater hat sie geheiratet und ist infolgedessen verstoßen worden. Was nun gefolgt ist, weiß ich nicht. Kurz und gut, Mutter ist eines Tages mit mir und meiner Schwester bei unserem Pflegevater erschienen und hat um Aufnahme gebeten. Leider hat sie nicht lange mehr gelebt, dann ist sie gestorben.“
„War der Pflegevater ein Verwandter von Ihnen?“
„Nein. Sie hat sich als Fremde bei ihm eingemietet. Als sie starb, hinterließ sie uns so viel, daß wir später ein Institut besuchen und uns auf unseren jetzigen Beruf vorbereiten konnten. Ich fand dann Stellung bei der Gräfin von Hohenthal und meine Schwester in der Familie Sainte-Marie. Wir haben keine Veranlassung gehabt, uns zu verändern.“
„Sie wissen aber, wer Ihr Vater war?“
„Nein.“
„Ihre Mutter muß doch seinen Namen getragen und sehr oft von ihm gesprochen haben!“
„Nein. Sie hat unter ihrem Mädchennamen gelebt, unter dem Namen Köhler, den wir auch jetzt noch führen, und niemals ist ein Wink gefallen, aus dem sich hätte vermuten lassen, wer unser Vater ist.“
„Aber sie hat Sie doch als ihre Kinder legitimieren müssen. Und das konnte nur durch Dokumente geschehen, in denen auch der Name ihres Mannes genannt war!“
„Das scheint nicht der Fall gewesen zu sein. Warum sie sich von ihrem Gemahl getrennt hat, das kann ich mir denken, obgleich ich es nicht genau weiß; aber auf welche Weise es ihr gelungen ist, die Vergangenheit in vollständiges Dunkel zu hüllen, das kann ich nicht sagen.“
„Woher aber wissen Sie, daß sowohl Ihr Vater als auch ihr Großvater den Kreisen des Adels angehörten?“
„Der Pflegevater hat es uns erzählt. Er hat es aus Verschiedenem geschlossen. Noch vor ihrem Tod hat die Mutter ihm vieles erzählt; aber wie es scheint, hat er ihr schwören müssen, zu schweigen. Nun wissen wir weiter nichts als das, was ich Ihnen bereits mitgeteilt habe.“
„Das ist interessant, höchst interessant! Da gibt es also keinen einzigen Punkt, welcher Ihnen bei dem Forschen nach Ihrem Vater und Großvater als Anhaltspunkt dienen könnte?“
„Nichts, als daß der Vater mit seinem Rufnamen Gaston geheißen hat. Höchstens könnten wir noch angeben, daß er einen Diener gehabt hat, welcher Flory gerufen wurde.“
„Wenig, außerordentlich wenig! Haben Sie sich nie die Mühe gegeben, in dieses Dunkel einzudringen?“
„Nein.“
„Und Ihr Pflegevater hat Ihnen auch nie Mitteilung gemacht, irgendeine Andeutung gegeben oder Sie wenigstens auf irgendeinen späteren Zeitpunkt vertröstet?“
„Nie.“
„So muß man sich bei ihm erkundigen.“
„Vielleicht ist dies bereits zu spät. Wie Sie ja schon wissen, erhielt ich einen Brief meiner Schwester. Sie schreibt mir, daß der Pflegevater todkrank darnieder liege, und daß die Ärzte keine Hoffnung geben.“
„Er wird diese Hoffnungslosigkeit erkennen und dann vielleicht sein Schweigen brechen. Ein jeder vernünftige Mann bringt, wenn er den Tod nahe fühlt, seine irdischen Angelegenheiten in Ordnung, und zu diesen letzteren gehört betreffs Ihres Pflegevaters doch auch die Ihrige.“
„Allerdings. Aber wenn er wirklich Stillschweigen schwören mußte, so ist es fraglich, ob er die Erlaubnis hat, vor seinem Tod das Schweigen zu brechen. Übrigens werde ich, wenn er sterben sollte, bald erfahren, ob er noch gesprochen hat. Ich habe der Schwester telegrafiert, mich seinen Tod sofort durch eine Depesche wissen zu lassen, da ich ihn zu Grabe geleiten will.“
„Ihre Schwester wird seinen Tod also eher erfahren als sie?“
„Ja; sie wohnt ihm näher.“
„Ah! Sie wohnt in Ortry; so lebt er in Frankreich?“
„Ja. Es wird eine weite Reise sein, die ich dann plötzlich zu machen habe; aber er ist uns ein treuer Versorger gewesen, geradeso, als ob er unser wirklicher Vater wäre. Da ist es Pflicht der Dankbarkeit und Pietät, daß wir an seinem Grab erscheinen. Auch Schwester Nanon wird auf alle Fälle kommen.“
„Ist sein Wohnort in der Nähe von Ortry?“
„Er ist in der Gegend von Etain.“
Haller horchte auf. Er bemerkte rasch:
„Dort bin ich bekannt. Darf ich nach dem Ort fragen?“
„Der Pflegevater ist Verwalter auf Schloß Malineau.“
„Malineau?“ fragte Haller, indem er überrascht aufsprang. „Sein Name ist Berteu?“
„Ja, ja! Kennen Sie ihn denn?“
„Gut, sehr gut sogar. Er steht im Dienst des Generals Graf von Latreau, dem das Schloß gehört.“
„Ja, ja! Das ist richtig! Welch ein Zufall, daß Sie ihn kennen!“
„So kennen Sie wohl auch Ella von Latreau, die Tochter des Generals?“
„Natürlich; sie hat mit uns als Kind gespielt, wenn sie sich zur Sommerzeit mit ihrem Vater auf dem Schloß befand.“
„Das ist allerdings eigentümlich! Ella von Latreau ist nämlich meine –“
‚Verlobte‘, wollte er sagen, aber er bemerkte sofort, welchen Fehler er damit begehen würde, und hielt inne. Sie blickte ihn fragend an, und er erklärte, fast ein wenig verlegen:
„Sie ist meine Schülerin. Ich nahm vor einigen Jahren einen kurzen Aufenthalt in Paris, um die dortigen Kunstschätze zu studieren, und da hatte ich die Ehre, ihr einigen Unterricht im Aquarell zu geben.“
„Das ist sehr interessant. Ich habe sie seit mehreren Jahren nicht gesehen; sie muß eine sehr schöne Dame geworden sein!“
„Sie ist eine Schönheit ersten Ranges, ja, was noch mehr ist, eine ganz und gar eigenartige Schönheit.“
„Verheiratet ist sie noch nicht?“
„Nein.“
„Soviel ich weiß, war sie, was man verlobt nennen könnte. Haben Sie vielleicht in Paris im Hause des Generals einen jungen Grafen Bernard de Lemarch kennengelernt?“