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Haller hatte die Kaffeemühle und das Rasierzeug vom Stuhl gestrichen und sich darauf gesetzt. Er warf jetzt einen forschenden Blick auf die Bilder und bemerkte dabei:

„Vogelstudien? Interessant! Wie es scheint, lauter Kolibris.“

„Ja, lauter Kolibris, Kolibris von allen Arten und in allen Stellungen.“

„Wem gehören die Bilder?“

Schneffke machte ein sehr erstauntes Gesicht und antwortete: „Wem? Überflüssige Frage! Dem Kolibri natürlich!“

„Wer ist denn das?“

„Ah, richtig! Sie sind hier fremd, Sie können das nicht wissen, Sie haben von ihm wohl noch nichts gehört! Ich habe nämlich einen Bekannten, eine Art Kunstmäzen; er ist ein geradezu unbegreiflicher Kerl. Ich kenne ihn bereits seit Jahren, aber ich weiß noch immer nicht, ob er arm ist oder reich, verrückt oder bei Sinnen, ein Dummkopf oder ein gescheiter Kerl, ein Kunstkrösus oder ein armseliger Knicker.“

„Das muß ein interessanter Mensch sein!“

„Ja. Er wohnt auf dieser Straße vier Treppen hoch in einem Hinterhaus, heißt Untersberg und hat die ganze Etage inne. Ich bin bereits viele hundert Mal bei ihm gewesen, habe aber nur drei Zimmer betreten können. Das eine steckt voller alter Bücher, und die beiden anderen sind berühmt wegen der Menge Bilder, welche an den Wänden hängen; aber es sind lauter Kolibris. Darum sein Spitzname. Sobald nämlich ein Anfänger der edlen Farbenkunst auftaucht, taucht auch der Gedanke bei ihm auf, sich einen Kolibri von demselben malen zu lassen.“

„Possierlich! Zu welchem Zweck?“

„Das weiß ich leider nicht. Übrigens ist er im höchsten Grad menschenscheu. Ich bin der einzige, der offene Türe bei ihm hat. Ich weiß wirklich nicht, welchen Narren er an mir frißt.“

„Doch vielleicht Sie selbst!“

„Danke bestens! Übrigens hat er mich während meiner Abwesenheit sehr vermißt. Als ich nach Hause kam, fand ich von ihm die Botschaft vor, ihn sofort zu besuchen. Ich ging hin. Er lag bereits im Bett. Ich mußte mir diese Bilder mitnehmen, um sie zu reinigen. Er gab mir fünf Taler und eine Flasche Wein. Das Geld steckte ich natürlich ein, und den Wein habe ich auch bereits gekostet. Wo steht denn die Flasche? Dunkler portugiesischer Tintio! Feurig und durchdringend wie glühendes Eisen. Ah, dort steht die Pulle. Sie müssen ihn kosten.“

Er langte unter den Tisch und zog eine Flasche hervor.

„Gläser habe ich leider nicht“, fuhr er fort, „aber eine Obertasse. Es ist die einzige, welche mir die eheliche Treue bewahrt hat. Doch, für zwei Künstler reicht sie aus. Prosit!“

Er goß die Tasse voll und setzte an, um den Kollegen zuzutrinken. Er nahm einen tüchtigen Schluck; kaum aber war dieser hinab, so zog er ein Gesicht, als ob er die Hölle verschlungen hätte.

„Pfui Teufel!“ rief er. „Der schmeckt schlecht. Ich glaube, er verdirbt schnell. Die Flasche muß rasch geleert werden, wenn sie einmal angerissen ist. Hier, versuchen Sie es!“

Er hielt Haller die Tasse hin. Dieser warf einen vorsichtigen Blick in dieselbe und fragte:

„Was ist denn das, Kollege?“

„Portugiesischer Tintio! Ich sagte es bereits.“

„Hm! Den Tintio kenne ich; ich habe ihn oft getrunken; er verdirbt nicht so leicht. Das, was sie hier in der Tasse haben, muß etwas ganz anderes sein.“

„Was soll es denn sein? Tintio ist es. Hier die Etikette an der Flasche wird Ihnen beweisen, daß –“

Er hielt mitten im Satze inne. Er hatte die Flasche emporgehalten, damit Haller den Namen des Weines lesen solle. Auf der Flasche aber stand: Feinste tief schwarze Kanzleitinte.

„Heiliges Pech!“ rief er nach einer Pause sprachlosen Entsetzens. „Da habe ich ja wirklich und wörtlich Tinte gesoffen. Das ist so klar wie Pudding. Drum also zog es mir den Schlund zusammen wie einen alten Tabaksbeutel. Na, Magen, ich gratuliere dir!“

„Prosit Appetit!“ lachte Haller.

„Ja, lachen Sie nur!“ zankte der Dicke. „Aber ich weiß ganz genau, daß ich die Weinflasche unter den Tisch gestellt habe. Ich glaube gar, meine Wirtin hat sich den Spaß gemacht, sie umzutauschen. Na, da soll sie der Kuckuck reiten.“

„Was guckt denn dort aus dem Muff hervor?“ fragte Haller, indem er auf das Bett deutete, unter dessen halb zurückgeschlagener Decke der erwähnte Gegenstand zu erkennen war.

„Aus dem Muff? Den habe ich mir von meiner Wirtin geborgt; ich hatte ein Bisamtier zu malen und wollte die Farbe des Felles studieren. Sapperlot! Ja, in diesem Muff steckt die Flasche. Da hat also der portugiesische Tintio in seinem Pelzfutteral die ganze Nacht mit mir im Bett gelegen. Na, das schadet nichts. Getrunken wird er doch.“

„Danke, Herr Kollege! Trinken Sie Ihren Schlafkameraden selbst. Ich trinke nur frisch aus dem Keller, nicht aber frisch aus dem Bett.“

„Schön! Ist mir desto lieber. Da komme ich um nichts.“

Er zog die Flasche aus dem Muff hervor, öffnete sie und tat einen kräftigen Zug.

„Oh!“ rief er dann. „Zwischen Tintio und Tinte ist denn doch ein großer Unterschied. Ich wollte, ich könnte es Ihnen beweisen.“

„Ich verbitte mir diesen Beweis. Übrigens sind wir von unserem interessanten Thema abgekommen, nämlich vom Kolibri.“

„Richtig! Also gestern habe ich mir diese Bilder, diese Trochilusabbildungen mitnehmen müssen, weil – hm, Herr Kollege, sind Sie Ornithologe, Vogelkenner?“

„Ein wenig.“

„Kennen Sie die lateinischen Namen der Vögel? Heißt Kolibri nicht Trochilus?“

„Ja.“

„Nun also, der Alte lag im Bett und sagte mir, ich solle mir die sechs eingerahmten Trochilus minimus mitnehmen. Oder sagte er Trochili minimus oder Trochilus minimi? Ich weiß es nicht, ich habe von der Wand genommen, was mir in die Hände kam. Sind es die richtigen?“

„Nein. Was ich da sehe, ist der Kragenkolibri, der Trochilus selasphorus.“

„So, so! Na, schadet nichts. Wird auch abgewaschen. Also ich erzählte Ihnen bereits, daß der Alte, den wir Kolibri nennen, mir ein Rätsel ist. Warum er es einzig auf Kolibris abgesehen hat, kann ich mir nicht erklären.“

„Haben Sie ihn nicht gefragt?“

„Ein einziges Mal, aber ich habe es nicht wieder getan. Er wurde toll; er schäumte fast vor Wut. Er warf mich hinaus wie Pudding, und ich durfte mich lange Zeit nicht wieder sehen lassen. Jetzt aber sind wir ausgesöhnt; er scheint es vollständig vergessen zu haben. Außer dieser Marotte hat er noch zwei. Er zeichnet nämlich Köpfe.“

„Das nennen Sie eine Marotte?“

„Ja, wie er es tut, ist es eine, vielleicht gar eine Manomanie. Er ist nämlich kein Zeichner; er hat nicht das mindeste Geschick, den Stift oder die Kreide zu führen, und dennoch zeichnet er ohne Unterlaß.“

„Zu welchem Zweck denn?“

„Das will er jedenfalls nicht wissen lassen; aber er hat es mir einmal doch selbst verraten. Während er nämlich zeichnet, spricht er mit sich selbst. Einst war ich bei ihm, um in den alten Büchern herumzustöbern. Er zeichnete und schien dabei vergessen zu haben, daß ich anwesend war. Ich belauschte sein Selbstgespräch. Er hat einen Sohn, der ihm abhanden gekommen ist, oder der ihn verlassen hat. Nun will er einen Aufruf erlassen, um ihn wiederzufinden, und diesem Aufruf soll das Porträt des Verschollenen beigefügt werden.“

„Er selbst will dieses Porträt fertig bringen?“

„Ja. Er zeichnet einen Kopf nach dem anderen, bis er einen fertig bringt, der dem Sohn ähnlich ist.“

„Diese Mühe wird vergeblich sein, wenn er nicht selbst ein Künstler ist.“

„Natürlich! Ich halte es für Manomanie, für Verrücktheit. Und die dritte Marotte, welche er hat, ist ebenso eigentümlich. Er sucht nämlich ohne Unterlaß in seinen Büchern nach einer Schrift, welche er in einem Buch aufbewahrt haben will. Ich habe tagelang mit ihm in den alten Büchern herumgeblättert, aber nichts gefunden.“