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„Was für eine Schrift ist es?“

„Er nennt es ein Dokument du divorce, also ein Ehescheidungsdokument.“

„Was? Sie sprechen französisch?“

„Sogar ziemlich gut, wie ich Ihnen bald beweisen könnte. Aber da stehe ich und faulenze, während der Alte die Bilder bereits am Mittage wieder haben will. Sie erlauben, daß ich weiter wasche, während wir uns unterhalten.“

Er setzte sich wieder auf die Diele nieder, spreizte die Beine auseinander und begann von neuem, mit dem Schwamm zu hantieren.

„Hier, dieser Kragenkolibri ist verteufelt schmutzig geworden“, sagte er. „Ich reibe beinahe die Farbe ab, und – ah, was ist das? Die Leinwand ist ja doppelt! Und dazwischen scheint etwas zu stecken.“

Er untersuchte das Bild und sagte dann:

„Es ist wirklich so. Doppelte Leinwand. Sollte –? Hm! Ich werde diesen schmutzigen Kragenkolibri einmal aus dem Rahmen nehmen.“

Er bog die an der hinteren Seite des Bildes angebrachten Stifte zurück und nahm das Bild aus dem Rahmen. Beide, er sowohl wie auch Haller, stießen einen Ruf der Überraschung aus. Der Rahmen enthielt zwei Bilder. Unter dem Kolibri steckte ein zweites Gemälde, und zwischen beiden hatten sich einige Papiere eingefunden. Der Dicke warf den Kolibri beiseite und hielt das andere Bild gegen das Licht.

„Ein Porträt“, sagte er. „Das Porträt einer Dame, jedenfalls einer jungen Frau.“

Haller war hinzugetreten und betrachtete den feinen Kopf mit den wunderlieblichen Gesichtszügen.

„Ein Meisterstück“, bemerkte er.

„Ja, ein Meisterstück des Malers, aber auch ein Meisterstück der Schöpfung. Das Original muß geradezu bezaubernd gewesen sein. Nicht?“

„Gewiß! Aber geradezu auffallend ist diese Ähnlichkeit.“

„Eine Ähnlichkeit? Mit wem?“

„Mit der – ja, richtig; es ist kein Irrtum möglich. Mit der Gesellschafterin, die ich kenne.“

„Von der Sie geträumt haben?“

„Ja, Fräulein Madelon.“

„So! Hm! Madelon heißt sie also? Sie Glücklicher! Sie wissen den Namen. Von meiner Gouvernante weiß ich kein Sterbenswörtchen. Aber ich muß erfahren, wer sie ist, und sollte ich Stralsund vom Himmel herunterreißen wie einen Pudding vom Präsentierteller.“

„Und was sind das hier für Papiere, welche zwischen den Bildern gesteckt haben?“

„Wollen sehen.“

Er schlug die zusammengefalteten Blätter auseinander und begann den Inhalt zu mustern.

„Französisch!“ sagte er. „Zwei Briefe und ein Dokument.“

„Wirklich? Sollte es vielleicht gar das viel gesuchte Dokument du divorce sein?“

Schneffke las es durch und sagte dann:

„Wirklich! In diesen Zeilen willigt eine Baronin Amély de Bas-Montagne in aller Form in die Scheidung von ihrem Mann. Es ist das Gesuchte.“

„Und die Briefe?“

„Ich werde sie einmal vorlesen.“

Er las die in französischer Sprache abgefaßten Zeilen laut vor. Deutsch würden sie gelautet haben:

„Mein bester, mein teuerster Gaston!

Wenn Du von der Reise zurückkehrst, findest Du wohl diesen Brief, nicht aber Deine Amély, Deinen süßen Kolibri, vor. Mein Herz bricht, indem ich dieses schreibe; aber ich kann, ich darf nicht anders. Du hast mich geliebt, und ich fand den Himmel in Deinen Armen. Deine Liebe zu mir hat Dich von dem Vater getrennt, welcher unserer Verbindung fluchte. Du hast mir alles, alles geopfert, mir, dem armen, fremden, bürgerlichen Mädchen. Jetzt ist die Leidenschaft verschwunden, und Du beginnst zu denken und zu rechnen. Ich beobachte Dich im stillen und sehe, daß ich Dir nicht mehr alles bin.

Gott ist mein Zeuge, daß mein Leben nur Dir allein gehört! Indem ich von Dir scheide, gebe ich mir den Tod, denn ich kann ohne Dich nicht sein. Aber ich gebe Dich frei; ich gebe Dich Deinem Stand, Deinem Beruf, Deiner Ehre und Deinem Vater zurück. Ich lege meine, von dem Notar kontrasignierte Einwilligung zur Scheidung bei.

Meine Hand zittert, mein Herz erbebt und meine Augen stehen voller Tränen. Ich nehme nichts, gar nichts mit, als meine Kinder, meine süße Nanon und meine herzige Madelon. Du hast sie mir geschenkt, und sie sind mein Eigentum. Forsche nicht nach uns, denn Du würdest uns doch nicht finden.

Dein Kolibri entweicht. Sein Gefieder wird den Glanz verlieren und sein Flug wird sich bald zum Grab senken. Aber noch im Sterben werde ich dem heißen Wunsch meinen letzten Atem widmen: Sei glücklich, glücklich, glücklich.

Dein Weib, Deine Amély, Dein armer, unschuldiger Kolibri.“

Es war gar nicht zu beschreiben, welchen Eindruck dieser Brief auf Haller machte. Seine Augen waren weit geöffnet, als wollte er den Vorleser mit ihren Blicken verschlingen.

„Das steht da, wirklich da?“ fragte er.

„Natürlich!“

„Die Schreiberin heißt wirklich Amély?“

„Hm! Warum sollte sie einen anderen Namen nennen? Ich kann natürlich nicht garantieren, ob sie ein Pseudonym gewählt hat oder nicht.“

„Und der, an den sie schreibt, also ihr Mann, heißt Gaston?“

„Ja. So wenigstens steht es hier.“

„Zeigen Sie her! Ich muß völlige Gewißheit haben!“

Er riß dem Dicken den Brief aus der Hand, um ihn selbst zu lesen. Als er zu Ende war, rief er:

„Seltsam, seltsam! Ja geradezu wunderbar!“

„Was denn?“ fragte Schneffke, indem er verwundert zu ihm aufblickte.

„Diese Namen! Der Kosename Kolibri!“

„Ich will doch nicht befürchten, daß auch Sie in diese verteufelte Kolibrimanie verfallen!“

„Nein. Ganz gewiß nicht.“

„Na, es will mir aber ganz so vorkommen. Was haben denn gerade Sie mit diesem Gaston, dieser Amély und dem Kosenamen, wie Sie es nennen, zu tun?“

„Das werde ich Ihnen schon noch mitteilen. Jetzt aber bitte ich, auch den zweiten Brief zu lesen.“

„Hm! Jetzt eben fällt mir ein: Sind wir nicht im Begriff, eine ganz unverzeihliche Indiskretion zu begehen?“

„Ach was, Indiskretion! Wo es sich um so viel handelt, gibt es keine Rücksicht!“

„So? Und um was handelt es sich denn?“

„Um – nun, um etwas, wofür sich meine Gesellschafterin im höchsten Grad interessieren wird.“

„Träumen Sie etwa fort? Ihre Gesellschafterin mag sich für Sie interessieren! Alles andere ist überflüssig. Ich habe zwar vorhin Tinte gesoffen, aber von einem Kolibri lasse ich mich trotzdem nicht aus der Fassung bringen.“

„Ich habe meine Fassung vollständig; aber Sie werden sie mir rauben, wenn Sie sich noch länger weigern, auch den anderen Brief zu lesen!“

Der Dicke warf einen besorgten Blick auf den Kollegen, schüttelte den Kopf und sagte dann:

„Eigentlich sollte ich es wohl nicht tun, aber wir sind ja Kameraden und Leidensgefährten. Wir haben in Tharandts ‚Heiligen Hallen‘ zusammen die berühmte Rutschpartie unternommen, so wollen wir auch hier Hand in Hand gehen. Also hören Sie!“

Er las folgende Zeilen vor:

„Dem Herrn Baron de Bas-Montagne.

Herr Baron.

Ihr Unterhändler ist bei mir gewesen. Sie sind ein harter, ein grausamer Mann. Ihre Forderungen zerreißen mit das Leben. Aber ich bin ein Weib; ich habe ein Herz; ich habe zwei Kinder. Ich fühle, was es heißen mag, ein Kind verlieren, einen Sohn aufgeben zu müssen. Es war nie meine Absicht, Ihnen Gastons Herz zu rauben; Sie haben es von sich gestoßen. Aber Sie haben ein älteres, vielleicht auch ein heiligeres Recht an Ihren Sohn, ich trete zurück. Ich willige in die Scheidung unserer Ehe, obgleich ich weiß, daß ich damit mein Todesurteil unterzeichne.

Gott allein mag Richter sein, zwischen Ihnen und Amély de Bas-Montagne, geb. Renard.“

Auch diesen Brief nahm Haller dem Leser aus der Hand, um die Zeilen mit eigenen Augen zu überfliegen.