„Ich hoffe es! Das Nähere vielleicht bald. Alles übrige, das heißt, deine jetzige Arbeit und so weiter bleibt beim alten. Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“
Er ging und begab sich leise nach demjenigen Teil des Schlosses, in welchem die Dienerschaft schlief. In seinem Zimmerchen angekommen, öffnete er die Laterne und warf sich in einen Stuhl. Er stemmte den Kopf in die Hand und begann zu grübeln. Das Licht beleuchtete sein Gesicht, und wenn es einmal aufflackerte, so huschten gespenstische Schatten durch den Raum. Er bemerkte es nicht.
Woran mochte er jetzt denken? An die Eltern, denen er vorhin die Schuld aufgebürdet hatte, ihn zu dem gemacht zu haben, der er war – zum kühnen und verschlagenen Verbrecher? Wer kann das wissen! Wußte doch er selbst es kaum. Er gab sich seinen Gedanken widerstandslos hin, ohne Rechenschaft von sich zu fordern. Das Licht brannte herab, es flackerte einige Male kurz auf und verlöschte dann. Erst jetzt erwachte er aus seinem Grübeln.
„Finster“, murmelte er. „So geht es auch mit dem Licht der Jugend, des Glücks und des Lebens. Aber sorgen wir dafür, daß ein neues vorhanden sei, um angezündet zu werden, wenn das alte verlöschen will! Was nützt das Grübeln und Sorgen! Ich sehe, daß ich richtig gerechnet und mich in dem Kapitän nicht getäuscht habe. Er meint, mir überlegen zu sein; er denkt, in mir ein gutwilliges, dankbares und einträgliches Werkzeug gefunden zu haben; er wird entschlossen sein, mich auszunutzen, bis er mich nicht mehr braucht. Aber er irrt sich. Ich werde ihm dienen um meines eigenen Vorteils willen, aber mich zu betrügen soll ihm nicht gelingen!“
Als am anderen Morgen der Kapitän erschien, um sich mit dem Grafen zum Frühstück, welches sie allein einnahmen, niederzusetzen, zeigte sein sonst so strenges Gesicht einen Ausdruck von Heiterkeit, welcher Rallion sofort auffallen mußte. Dieser fragte daher:
„Über welches Glück sind Sie denn bereits heute am frühen Tag hinweggestürzt, daß ich Sie bei so vorteilhafter Laune sehe?“
„Heute nicht, sondern bereits am gestrigen Abend, gleich nachdem wir uns getrennt hatten“, antwortete der Gefragte. „Und zwar ist es ein Glück, welches Sie ebenso nahe angeht, wie mich selbst.“
„Sie machen mich um so neugieriger. Darf man dieses Glück, von welchem ich mir also auch einen Teil erhoffe, kennenlernen?“
„Ja. Erinnern Sie sich des Gegenstandes, über welchen wir vor unserer Trennung sprachen?“
„Natürlich! Wir sprachen über Königsau.“
„Und fanden keine Handhabe, sehr fatalerweise. Aber ich bin sehr erfreut, Ihnen sagen zu können, daß mir ein außerordentlich glücklicher Gedanke gekommen ist.“
„Ist er wirklich glücklich und auch ausführbar, so ist er mehr als Gold wert. Ich hoffe, daß ich ihn erfahren werde!“
„Das versteht sich. Vorher will ich Ihnen aber von einem anderen Glücke berichten, welches ich gestern abend noch gehabt habe. Es wurde nämlich bei mir eingebrochen.“
Der Graf öffnete erstaunt den Mund und sah den Alten erwartungsvoll an.
„Eingebrochen? Hier im Schloß?“ fragte er.
„Ja, sogar in meinem Schlafzimmer.“
„Himmel! Welch ein Wagnis! Eingebrochen in Ihrem Schlafzimmer! Und das nennen Sie ein Glück?“
„Sogar ein sehr großes, ein sehr bedeutendes.“
„Das begreife der Teufel! Ich halte einen Einbruch für einen sehr gewagten Streich von seiten des Einbrechers und für ein großes Malheur für den Betroffenen.“
„Hm. Ja. Von gewagten Streichen sind Sie ja überhaupt nie ein Freund gewesen!“
Der Graf runzelte die Stirn und fragte in nicht sehr freundlichem Ton:
„Zweifeln Sie etwa an meinem Mut?“
„Oh, ganz und gar nicht“, lachte der Alte. „Es gibt ja sehr verschiedene Arten von Mut.“
„Das ist mir neu. Mut ist doch immer gleich.“
„O nein. Es gibt Mut der Unbesonnenheit, den Mut der Liebe, den Mut der Entsagung, den Mut der Verzweiflung, ja, sogar den Mut der Feigheit.“
„Der letztere ist ein Unding.“
„Keineswegs. Aber jedenfalls war er demjenigen fremd, welcher gestern abend bei mir eingebrochen ist.“
„Was hat er gestohlen?“
„Nichts, gar nichts. Der Einbruch ist ihm nicht gelungen. Ist das nicht ein Glück für mich zu nennen, da ich über zwanzigtausend Franc im Kasten hatte, den er öffnete?“
„Das war allerdings ein Glück!“
„Und das nicht allein. Ich habe ihn sogar erwischt und festgehalten. Ist das kein Glück?“
Der Graf machte eine Bewegung des Schrecks und rief:
„Unvorsichtiger! Wie können Sie so etwas wagen! Einen Einbrecher festzunehmen! Ohne alle andere Hilfe! Wie nun, wenn er Sie massakriert hätte? Das wäre ja leicht möglich gewesen.“
„Er hat es aber doch nicht getan.“
„Er hatte also den Kasten bereits offen?“
„Ja, und das Geld bereits in der Tasche; aber ich zwang ihn, es wieder herauszugeben.“
„Kapitän, das ist wirklich entsetzlich! Das sind leichtsinnige Jugendstreiche von Ihnen. Ich rühme mich doch auch einer gehörigen Portion von Mut und Verwegenheit, aber einem Einbrecher jage ich seinen Raub niemals wieder ab. So etwas kann höchst unglücklich ausfallen, wie zahlreiche Beispiele beweisen. Aber, da fällt mir ja ein, daß man gar nichts gehört und bemerkt hat.“
„Was sollte man denn hören?“
„Hilferuf und Kampfgetümmel!“
„Nichts weniger als das. Es ist vielmehr sehr ruhig dabei hergegangen.“
„Das begreife ich nicht. Wo steckt denn der Kerl? Es war nur einer?“
„Glücklicherweise, ja.“
„Sie haben ihn doch sofort in Eisen schmieden und forttransportieren lassen?“
„Fällt mir gar nicht ein.“
„Nicht? Was denn sonst?“
„Ich habe ihn wieder freigelassen.“
Da machte der Graf ein Gesicht, als ob er geradezu Ungeheuerliches vernommen habe. Er starrte den Kapitän eine ganze lange Weile sprachlos an und rief dann aus:
„Freigelassen? Sie scherzen doch wohl nur?“
„Nein, ich spreche im völligen Ernste.“
„Welch eine Unverzeihlichkeit! Einen Dieb, einen Mörder, einen Einbrecher frei zu lassen, der nun bei anderen abermals einbrechen wird.“
„Das ist ja gerade der Grund, weshalb ich ihm die Freiheit schenkte!“
„Daß er auch andere nächtlich überfallen soll?“
„Ja doch! Gerade dieses.“
„Da hört sich denn doch alles auf! Sind Sie denn verrückt, Kapitän?“
„Nicht die Spur. Ich handelte aus schlauer Berechnung, was bei Verrückten und Wahnsinnigen doch nicht vorzukommen pflegt.“
„Aber wohin ist der Mensch nun?“
„Er ist hier im Schloß.“
Da zog der Graf die Beine erschrocken an sich, als ob er Sorge trage, daß der freigelassene Einbrecher sich unter dem Tisch befinde.
„Im Schloß?“ fragte er. „Ist das wirklich wahr? Höre ich recht?“
„Ihr Gehör scheint ganz ausgezeichnet zu sein. Der Mann befindet sich hier im Schloß; er gehört zu meiner Dienerschaft.“
„Donnerwetter! Bedient er etwa auch mich mit?“
„Ja, allerdings.“
„War er bewaffnet, als er einbrach?“
„Mit einem langen, scharfen und sehr spitzen Messer.“
Da schnellte der Graf von seinem Sessel empor, als ob er von einer Spannfeder in die Höhe getrieben worden sei, und rief entsetzt:
„Das ist genug! Nein, nein, das ist sogar zu viel, mehr als zu viel! Kapitän, wollen Sie mir einen großen Gefallen erweisen?“
„Gern, wenn ich vermag.“
„Sie vermögen es. Lassen Sie sofort und unverweilt anspannen.“
„Warum, lieber Graf?“
„Weil ich abreisen will, schleunigst abreisen. Oder denken Sie etwa, daß es mir einfallen kann, hier zu bleiben und zu warten, bis der Kerl kommt, mit dem Messer in der Hand, um nun auch bei mir einzubrechen? Ich bin im glücklichen Besitz einer tüchtigen Portion Mut und Verwegenheit; ich bin sogar in meinem Leben schon sehr oft geradezu tollkühn gewesen, aber ein vorsichtiger Mann ist nur dann mutig, kühn und verwegen, wenn es sich nicht um Tod und Leben handelt. Ich habe keine Lust, mich erdolchen zu lassen.“