„Es ist nicht leicht; aber Samuel Cohn verspricht, zu machen, was möglich ist.“
„Wohlan, so fahre ich nach dem Bahnhof voraus; beeilen Sie sich nachzukommen! Ich bin nicht gewohnt, zu warten.“
Er ging und ließ den Agenten in einem Seelenzustand zurück, welcher die größte Ähnlichkeit mit einem Rausch hatte. Trotz dieser Aufregung und trotz allem, was in größter Eile noch zu besorgen war, gelang es dem Agenten, den Bahnhof früh genug zu erreichen.
Und einige Tage später rollte ein eleganter Mietwagen auf der Straße dahin, welche von Nordenburg und Darkehmen führt. Diese Straße durchschneidet den zu dem Gut Breitenheim gehörigen Wald. Links von derselben führt ein Fahrweg direkt nach dem Gutshof.
In diesen letzteren bog die Kutsche ein und fuhr nach ungefähr fünf Minuten in den offenen Hof der Besitzung. Ein junger, elegant gekleideter und wohlfrisierter Herr stieg aus. Zwei der auf dem Hofe befindlichen Knechte eilten herbei zu seinem Dienst. Er trat ihnen entgegen und fragte in ein wenig fremden Dialekte:
„Dieses Gut gehört Herrn von Königsau?“
„Ja, mein Herr“, antwortete der eine der beiden.
„Ist dieser Herr zu Hause und zu sprechen?“
„Er ist daheim und hoffentlich auch zu sprechen. Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen.“
Er wurde über den sehr sauber gehaltenen Hof nach dem Herrenhaus geführt und dann, in einem Vorzimmer angelangt, wo er seine Karte abgab, gebeten, einen Augenblick zu verweilen. Der Knecht, welcher in augenblicklicher Abwesenheit eines Dieners dessen Stelle vertrat, kehrte sehr rasch zurück und bat den Fremden, ihm zu folgen. Sie gelangten durch zwei Zimmer hindurch in ein drittes, welches augenscheinlich die Bibliothek des Besitzers war. Karten und Pläne lagen auf den Tischen und Stühlen, und an allen drei Wänden ragten Gestelle voll Büchern bis zur Decke empor. Hier war alles einfach; keine Spur von Luxus ließ sich sehen, und doch machte dieses Arbeitszimmer den Eindruck einer anspruchslosen und unbewußten Vornehmheit.
An dem mittleren der drei hohen und breiten Bogenfenster stand ein bequemer Sorgenstuhl, in dessen Kissen eine männliche Gestalt ruhte, deren Eindruck man gleich auf den ersten Augenblick einen imponierenden nennen mußte.
Schneeweißes, kurzgeschnittenes Haar ließ die Formen eines edel gewölbten Schädels erkennen; ein dichter Vollbart von eben derselben Farbe umrahmte ein leicht gebräuntes, schönes Greisenangesicht, aus welchem ein Paar Augen blickten, so hell, so klar, wie man es bei so hohem Alter selten zu bemerken pflegt. Über diesem Angesicht lag es wie ein milder Seelenfrieden ausgebreitet, und doch konnten bei näherer Betrachtung zwei kleine Fältchen nicht unbemerkt bleiben, welche, obwohl von den Spitzen des Schnurrbartes leicht verdeckt, sich an den Mundwinkeln schräg vorüberzogen und eine leichte Störung dieses Seelenfriedens zu bedeuten schienen. Die Gestalt dieses Mannes, welcher ein geöffnetes Buch in der Hand hielt, in welchem er soeben mit noch unbewaffnetem Auge gelesen hatte, war hoch und breit. So und nicht anders mußten die Recken Karls des Großen gebaut gewesen sein, welche mit größter Leichtigkeit Rüstungen von solcher Schwere trugen, daß ein jeder andere durch sie zur Erde niedergedrückt worden wäre.
Seinem Stuhl gegenüber, an dem Pfeiler, an welchem ein hoher und breiter Spiegel befestigt war, stand ein Möbel, halb Bett und halb Stuhl. In den darauf befindlichen Kissen erblickte man, mehr sitzend als liegend, eine Frauengestalt, welche nicht weniger Interessen erregte als der Mann.
Unter starken und langen schneeweißen Locken, welche jetzt zu einer Art Kranz geflochten waren, erblickte man einen unbeschreiblich schönen Matronenkopf. Zwar zeigte das Gesicht desselben eine krankhafte, fast wächserne Blässe; aber das milde Licht, welches aus den großen, dunklen Augen strahlte, der versöhnliche Ernst, welcher auf der trotz des Alters noch faltenfreien Stirn thronte, die fast noch jugendlich zu nennende Rundung der Wangen, das Kinn, welches weder zu voll, noch zu spitz und scharf in den weißen Hals überging, sie bildeten zusammen einen Beweis der Wahrheit, daß der Mensch nicht alt werden kann, so lange das Herz jung bleibt. Nur die Lippen, einst jedenfalls voll, schön entworfen und zum Küssen einladend, waren dünner und bleicher geworden, und ihre etwas zusammengezogene Stellung gegeneinander ließ vermuten, daß diese Greisin in unbewachten und unbeobachteten Augenblicken den Mund heimlich zusammenpresse, um innere Schmerzen zu unterdrücken und zu verbergen, welche von den Ihrigen nicht geahnt und entdeckt werden sollten.
Der untere Körper dieser Dame war bis über die Füße herab mit einer wollenen Decke verhüllt. Sollte diese Greisin, deren Augen noch so froh und jugendlich zu lächeln verstanden, ein von ihr aus Liebe nicht eingestandenes Leiden in sich tragen, welches von den Füßen auf begonnen hatte, dem Körper die so notwendige Lebenswärme zu entziehen?
Diese beiden, der Greis und die Matrone, waren Hugo von Königsau, der einstige Liebling Blüchers, und Margot, seine Frau, welche das Glück an seiner Seite der Liebe eines Kaisers vorgezogen hatte.
Aus dem ehrwürdigen Haar Hugos lief ein roter, fingerbreiter Streif schräg bis über die Hälfte der Stirn herab. Das war die Narbe jenes verhängnisvollen Hiebes, welcher ihm fast das Leben gekostet und seinem Gedächtnis eine unausfüllbar scheinende Lücke gerissen hatte.
Margot hielt die Hände wie zum Gebet gefaltet, zu jenem Gebet, welches unbewußt aus dem Auge blickt, von der Wange strahlt, um die Lippen lächelt und um den ganzen Menschen weht, wie der süße, reine Duft den Kelch der bescheidenen Resedablüte umzittert.
Ihr Auge war auf die Mitte des Zimmers gerichtet, wo ein Knabe auf Händen und Füßen hin und her trabte, um den englischen Zelter vorzustellen, auf welchem eine kleine, allerliebste Reiterin saß und seinen Rücken mit den quatschigen Fäustchen traktierte, um den armen, bereits schwitzenden Gaul aus dem Trab gar noch in den Galopp zu treiben. So ein kleines Tausendschönchen weiß eben auch schon ganz genau, daß es sich ungestraft erlauben darf, das gutmütige stärkere Geschlecht in Zaum und Zügel zu nehmen.
Und daneben stand, diese Gruppe betrachtend, mit glückstrahlendem Auge eine liebe, milde Madonnengestalt, die Mutter dieser beiden schönen Kinder, und doch noch so jungfräulich angehaucht, als ob die Liebe noch gar nicht dagewesen sei, ihr Herz, Mund und Sinn zu erschließen – Ida von Rallion, die Frau Gebhards von Königsau, welcher leider jetzt in der Ferne weilte.
Dieses Stilleben wurde durch den Knecht unterbrochen, welcher eintrat, um eine Karte zu überbringen und dabei zu melden, daß ein fremder Herr angekommen sei und nach Herrn von Königsau gefragt habe. Hugo nahm die Karte, warf einen Blick auf dieselbe und las laut:
„Henry de Lormelle. Diesen Namen kenne ich nicht. Hast du ihn vielleicht einmal gehört, beste Margot?“
„Nie“, antwortete die Matrone.
„Oder du, liebe Ida?“
„Ich auch nicht, Papa.“
„Nun, wir werden ja gleich sehen. Ich bitte den Herrn, einzutreten.“
Diese Worte waren an den Knecht gerichtet, welcher sich entfernte, um den Fremden herbeizubringen. Als derselbe eintrat, grüßte er stumm, aber mit einer Verbeugung, welche bewies, daß er gewohnt sei, sich in guter Gesellschaft zu bewegen. Er wurde nicht mit jenen kalten, neugierig oder gar zudringlich fragenden und taxierenden Blicken empfangen, mit denen in manchen Familien der zum ersten Mal Zutritt Nehmende begafft oder gar beleidigt wird, sondern Königsau legte sein Buch weg, erhob sich, ging ihm entgegen, reichte ihm die Hand und begrüßte ihn französisch, da er aus dem Namen schließen konnte, daß der Besuch ein Franzose sei.
„Willkommen, Monsieur de Lormelle! Ich heiße Königsau, und diese Damen sind meine Frau und die Gattin meines Sohnes. Die Enkel spielen dort Kavallerie, was ich gütigst zu entschuldigen bitte. Ebenso mögen Sie verzeihen, daß meine Frau sich nicht erheben kann. Ihr Leiden wehrt ihr die Möglichkeit, Sie anders als sitzend zu begrüßen.“