So verging die Zeit in völliger Schweigsamkeit. Die Räder mahlten im tiefen Sand, und zuweilen ließ sich ein kurzer Zuruf des Kutschers hören. Es war dem Grafen nicht ganz geheuer; aber die im Wagen herrschende Stille, verbunden mit dem eintönigen Geräusch der Bewegung übte eine einschläfernde Wirkung auf ihn aus. Er faßte sein Köfferchen mit den Händen, drückte es an sich und – schloß die Augen.
Als er sie wieder öffnete, war es hell geworden. Sein erster Blick galt natürlich dem Mann, welcher ihm gegenübersaß. Er konnte von demselben nichts erkennen als ein paar Stiefel, eine Reisemütze und einen weiten Mantel, welcher hoch emporgezogen war. Ganz oben, zwischen Mütze und Kragen, blickten zwei dunkle Augen hervor.
Sobald aber der Inhaber dieser Augen jetzt bemerkte, daß der Graf seinen Schlummer unterbrochen habe, ließ er den Mantel herab und enthüllte ein aristokratisch feines Gesicht, welches von einem dichten, dunklen Vollbart eingerahmt wurde.
Rallion kam es vor, als ob er diese Züge bereits einmal gesehen habe, aber er konnte sich nicht entsinnen, wo und wann dies geschehen sein solle.
Jetzt zog der andere ein Etui hervor und steckte sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, eine Zigarre an. Dann ließ er das Wagenfenster herab und blickte hinaus, um zu sehen, wie weit man gekommen sei. Als er nach einer kurzen Weile den Kopf zurückzog, warf er einen halb höhnischen, halb feindseligen Blick auf den Grafen und sagte:
„So, mein Herr, der Sie ein Graf sein wollen, jetzt können wir unser Gespräch fortsetzen. Vorher war es dunkel, und ich liebe es, demjenigen, der mich fordert, ins Gesicht zu sehen.“
„Ich ebenso.“
„Das bezweifle ich. Sie haben nur Mut, im Dunkeln zu intrigieren. Sie sind ein Schuft, ein Schurke, ein Lump, bei dessen Anblick es einem ist, als ob man eine häßliche Spinne entdecke. Ich sage Ihnen das aufrichtig ins Gesicht, bin aber überzeugt, daß Sie mich nicht zur Rechenschaft ziehen, sondern vor mir ausreißen werden.“
Das Gesicht des Grafen war totenbleich geworden. Er ballte beide Fäuste und antwortete:
„Hielte ich nicht meine bereits ausgesprochene Meinung, nämlich daß Sie unzurechnungsfähig sind, für die richtige, so sollten Sie erfahren, welche Antwort ich auf solche Worte gebe.“
„Pah! Natürlich werden Sie diese Meinung aufrechterhalten, damit Sie einen Grund haben, sich zurückzuziehen; aber ich lasse Ihnen die Flucht nicht gelingen. Daß Sie den besten Platz im Wagen beanspruchten, beweist, daß Sie weder Lebenserfahrung, noch Höflichkeit besitzen. Daß Sie mich forderten, weil ich meinen Sitz behielt, brächte einen jeden anderen, nur mich nicht, auf den sehr berechtigten Gedanken, daß Sie entsprungener Irrenhäusler sind. Ich hätte Ihnen eine Ohrfeige, welche ich Ihnen anbot, nicht nur angedroht, sondern auch wirklich gegeben, aber ich habe es nicht getan aus Rücksicht auf den unglücklichen Umstand, daß Sie mein Verwandter sind.“
Der Graf machte eine Bewegung der Überraschung.
„Ich? Ihr Verwandter?“ fragte er. „Sie träumen!“
„Ich bin vielmehr sehr wach. Sie sind doch jedenfalls der brillante Graf Jules Rallion, nicht?“
„Teufel! Woher wissen Sie das?“
„Mein lieber, lieber Cousin, fragen Sie doch nicht so dumm. Gerade, weil ich Sie so genau kenne, weiß ich auch, was Ihre Forderung, Ihr Verlangen nach Satisfaktion zu bedeuten hat. Sobald ich mich bereit zeige, mich mit Ihnen zu schlagen, werden Sie hier durch das Fenster springen und querfeldein laufen, so lange, bis der Postwagen nicht mehr zu sehen ist.“
„Ich werde Sie vom Gegenteil überzeugen, fordere aber vorher eine Erklärung, welcher Umstand Ihnen die Erlaubnis gibt, mich Ihren Verwandten zu nennen.“
„Ah! Sollten Sie mich in der Tat nicht kennen?“
„Ich bin ganz ahnungslos.“
„Nun, Sie sahen mich zum ersten Mal bei einer Gelegenheit, die Veranlassung gab, vor einem Duell davonzulaufen. Sie wurden von Gebhard von Königsau gefordert und gaben sich Mühe, schleunigst zu verschwinden.“
Jetzt begann der Graf zu ahnen.
„Teufel!“ rief er. „Sie sind – Sie sind doch nicht etwa –“
„Nun, wer?“
„Graf Kunz von Goldberg –“
„Der Gemahl Ihrer schönen Cousine Hedwig?“
„Ja.“
„Natürlich bin ich es, mein lieber, mein verehrtester Cousin. Ich bin sehr verwundert, Sie hier zu sehen. Bevor ich Sie aber frage, welchem freundlichen Umstand ich das Glück, Ihnen im Postwagen zu begegnen, verdanke, wollen wir unsere Satisfaktionsangelegenheit in Ordnung bringen. Schwager Königsau wohnt gar nicht weit von hier, und so bietet sich die beste Gelegenheit, seine damalige Forderung zum Austrag zu bringen. Vorher aber werde ich so höflich sein, Ihnen die verlangte Genugtuung zu geben. Blicken Sie hinaus. Sehen Sie den Wald da vorn, jenseits des Dorfes?“
„Ja“, stieß der Graf hervor.
„Nun, dort liegt ein Forsthaus, an welchem wir vorüberkommen. Ich kenne den Förster. Er hat prächtige Waffen und wird uns gern zwei gute Pistolen zur Verfügung stellen. Dann gehen wir in den Wald, aus welchem, darauf gebe ich Ihnen mein Wort, nur einer lebendig zurückkehrt. Und dieser eine werde ich sein. Einverstanden?“
Er sah den Grafen mit Augen an, aus denen dieser nicht recht klug werden konnte.
„Natürlich bin ich einverstanden“, antwortete Rallion. „Und ich glaube, besser zu wissen, wer der eine ist, welcher lebendig aus dem Wald zurückkehrt.“
„Oh, was das betrifft, so bin ich vollständig überzeugt, daß der, welchen Sie meinen, den Wald gar nicht erreichen wird.“
„Das wird sich finden.“
Damit war die Diskussion beendet. Der Postwagen rollte nach kurzer Zeit in das Dorf und hielt vor dem Wirtshaus, um die dort liegenden Briefschaften aufzunehmen.
„Zehn Minuten Zeit, meine Herren“, meldete der Postillion.
Rallion stieg aus und trat mit seinem Köfferchen in das Haus. Goldberg folgte ihm langsam. Um seine Lippen spielte ein eigentümliches Lächeln. Als er die Gaststube erreichte, war dieselbe leer. Nur der Wirt befand sich da.
„Ist kein Passagier hier eingetreten?“ fragte Goldberg.
„Nein, mein Herr.“
Goldberg begab sich in den Hof und dann in den Garten. Dort fand er einen Knecht, welcher mit dem Spaten arbeitete.
„War ein Fremder hier im Garten?“ erkundigte er sich.
„Ja“, lautete die Antwort.
„Wohin ist er?“
„Durch die Pforte ins Freie.“
Goldberg trat zur Pforte und kam gerade noch zur rechten Zeit, die Gestalt des flüchtigen Franzosen hinter einem Gesträuch verschwinden zu sehen. Er lachte heimlich vor sich hin und kehrte in die Stube zurück. –
Es war mehr als eine halbe Stunde vergangen, als der Knecht Schritte hörte. Er blickte sich um und sah den Fremden, welcher durch die Pforte zurückkehrte, und schüttelte den Kopf, Rallion aber schritt stracks nach dem Gastzimmer, in welchem der Wirt saß, seine Pfeife rauchend. Als dieser den Eintretenden erblickte, sagte er:
„Sapperlot! Sind Sie nicht vorhin mit der Post gekommen?“
„Ja.“
„Der Postillion hat Sie gesucht.“
„Warum?“ fragte Rallion unbefangen.
„Na, weil er nicht länger warten konnte.“
„Nicht länger warten?“ klang es erstaunt. „Ich will doch nicht hoffen, daß die Post fort ist.“
„Bereits seit zwanzig Minuten.“
„Donnerwetter. Der Postillion sagte ja, daß er fünfzig Minuten hier zu warten habe.“
„Da haben Sie gewaltig verkehrte Ohren gehabt. Hier wird zehn Minuten gehalten, keine Sekunde länger.“
„Er sagte fünfzig. Ich werde mich beschweren.“
„Versuchen Sie es! Es wird Ihnen nichts helfen. Übrigens meinte der andere Passagier, daß wir Sie nicht zu suchen brauchten.“
„Ah! Wieso?“
„Das weiß ich nicht. Wohin wollen Sie denn?“