Während der alte Schäfer in die Taschen Gebhards griff und denselben hin und her wendete, begann aus der Wunde, welche nicht mehr geblutet hatte, das Blut von neuem zu fließen. Zu gleicher Zeit bewegte der Totscheinende die Arme.
„Herrgott! Er lebt noch!“ rief der Schäfer.
„Wirklich? Ist es wahr?“ fragte Richemonte, indem er schnell hinzutrat.
„Ja, er bewegt die Arme. Ich werde ihn untersuchen.“
Der Mann mochte einige chirurgische Kenntnisse besitzen. Er unterwarf den Deutschen einer eingehenden, möglichst genauen Untersuchung und meinte dann:
„Er lebt wirklich! Er ist nicht tot.“
„Wird er wieder zum Bewußtsein kommen?“ fragte Richemonte.
„Gleich wohl nicht. Die Verwundung ist eine schwere, eine lebensgefährliche. Er könnte bei guter Pflege wohl noch gerettet werden. Aber ehe er zum Bewußtsein gelangen könnte, wird ihn das Wundfieber gepackt haben.“
„Verdammt! Wir haben ihn in unserer Gewalt. Wir könnten ihn zwingen, uns das Geheimnis mitzuteilen. Wenn er stirbt, geht es verloren; wenn er aber leben bleibt, so wird er uns gefährlich!“
Er strich sich nachdenklich die Spitzen seines Bartes; dann wendete er sich mit einer raschen Bewegung an das Mädchen!
„Mademoiselle, haben Sie gelernt, zu schweigen?“
„Ja“, antwortete sie.
„Kann man sich auch auf Ihren Vater verlassen?“
„Geradeso, wie auf mich selbst.“
„Und würden Sie beide schweigen, wenn ich Ihnen verspreche, daß, falls wir die Kasse noch finden, Sie einen Teil der darin befindlichen Summe erhalten sollen?“
„Ja“, antwortete sie nachdenklich. „Ich setze aber voraus, daß dieser Teil ein nicht zu armseliger ist. Wieviel geben Sie?“
„Den zehnten Teil.“
„Das ist genug. Wir werden also schweigen.“
Es war eigentümlich, die Gesichter der beiden jetzt zu beobachten. Der Kapitän machte das Gesicht eines Fuchses, welcher mit der Henne einen ewigen Frieden schließt, um sie desto eher verspeisen zu können. Das Mädchen aber ließ ein Lächeln sehen, hinter welchem viel mehr verborgen lag, als der Alte ahnte. Der letztere fuhr fort:
„So sind wir also einig. Der Zufall hat uns zusammengeführt, und so wollen wir auch Verbündete bleiben. Es gilt, diesen Verwundeten heimlich so lange zu pflegen, bis er sprechen und uns sein Geheimnis mitteilen kann. Könnten Sie ihn nicht in Ihrer Wohnung aufnehmen?“
„Es würde sich vielleicht ermöglichen lassen, Monsieur.“
„Aber es dürfte kein Mensch etwas merken.“
„Das versteht sich ganz von selbst. Vorsicht und Verschwiegenheit liegen ja in unserem eigenen Interesse.“
„Nun gut. So wollen wir ihn verbinden, damit er nicht verblutet. Sie halten mich für den Mörder dieser Leute?“
„Ja“, antwortete sie, ihn furchtlos anblickend.
„Sie irren sich. Ich werde Sie von den Verhältnissen unterrichten, und dann sollen Sie sehen, daß Ihre gegenwärtige Meinung eine falsche ist.“
Sie nickte ihm freundlich zu und antwortete:
„Und Sie sollen auch meine Verhältnisse kennenlernen. Dann werden Sie überzeugt sein, daß ich alle Ursache habe, nichts zu tun, was zu Ihrem Schaden ist.“
„Ah! Wieso?“
„Davon später! Jetzt haben wir mehr zu tun.“
„Sie haben recht. Den Verwundeten können wir erst dann, wenn es dunkel ist, nach Ihrer Wohnung bringen. Bis dahin haben wir zu tun. Das Loch muß wieder zugeschüttet werden.“
„Und die Leichen?“
„Legen wir mit hinein. Vorwärts! Komm heraus!“
Diese letzten Worte galten dem Baron, welcher noch immer im Schweiße seines Angesichtes an der Vergrößerung des Loches arbeitete. Der Kapitän mußte ihn am Arm ergreifen und herausziehen. Er war von einem Anfall seiner Krankheit ergriffen worden. Sein Blick fiel auf die zerschmetterten Köpfe der beiden Leichen. Sie sahen gräßlich aus. Seine Augen wurden noch stierer, als sie vorher gewesen waren; er fuhr sich mit beiden Händen in die sich sträubenden Haare und rief in jammerndem Ton:
„Gott, ich habe sie gemordet! Ich bin ein Mörder! Wo ist die Kriegskasse? Wo ist sie?“
„Still!“ raunte ihm der Kapitän zu. „Soll man uns etwa hören und erwischen!“
„Erwischen? Nein, nein! Seid still, still! Sprecht leise, ganz leise! Aber der Mörder bin ich doch!“
„Es gibt Stunden, in denen sein Geist krank ist“, erklärte Richemonte den beiden anderen.
„Ich werde ihn gesund machen“, meinte Adeline.
Sie trat zu dem Baron, legte den Arm um ihn, drückte ihn zärtlich an sich und sagte:
„Sei ruhig! Sei still! Du bist doch kein Mörder!“
Er blickte ihr forschend in das Angesicht, und dabei schien es in seinem Geist ein wenig heller zu werden.
„Kein Mörder?“ fragte er. „Wer aber bist denn du? Ah, du bist meine Tänzerin, Adeline, die schöne Hirtentochter! Ja, ich bin kein Mörder. Du aber bist meine Braut, meine Geliebte. Komm, laß dich küssen!“
Er zog sie an sich und küßte sie auf den Mund. Sie litt es geduldig, als ob sich das von selbst verstehe.
„Adeline!“ meinte ihr Vater verwundert.
„Donnerwetter!“ bemerkte der Kapitän. „Eure Bekanntschaft scheint eine sehr innige zu sein!“
„Aber eine heilsame für den Kranken, wie Sie sehen“, antwortete Adeline.
Sie führte den Baron, der sich willenlos von ihr leiten ließ, nach einer kleinen Bodenerhöhung, wo sie mit ihm wie auf einem Felsen Platz nahm. Ihr Vater sah ihr verwundert zu. Sie schien ihm ein ganz anderes Wesen geworden zu sein. Der Kapitän aber brummte in den Bart:
„Alle Teufel! Da kommt mir eine Person in den Weg, welche mir sehr bequem, aber auch sehr unbequem werden kann. Welches von beiden das richtige ist, das wird sich ja wohl zeigen, und danach habe ich mich dann zu richten.“
Er forderte den Schäfer auf, ihm bei der Zuwerfung der Grube behilflich zu sein. Der Mann gehorchte. Er war, so lange er lebte, ein armer, aber ehrlicher Kerl gewesen. Jetzt war er auf einmal Zeuge eines mehrfachen Mordes geworden; er fühlte sich betäubt, er arbeitete, ohne zu wissen, was er eigentlich tat; er half, die beiden Leichen in das Loch legen, er schüttete die Erde in dasselbe, er stampfte sie fest und streute Laub und Reisignadeln auf die Stelle, welche nun bedeutend höher geworden war als vorher. Er tat das fast ganz ohne Willen und Absicht, so ungefähr, wie ein Nachtwandler es getan haben würde.
Unterdessen hatten der Baron und Adeline sich leise flüsternd unterhalten. Der erstere hatte unter fortwährender Liebkosungen ihr Mitteilungen gemacht, welche von ungeheurer Wichtigkeit für sie waren, wie ihre verstohlenen Blicke zeigten, welche sie von Zeit zu Zeit triumphierend auf Kapitän Richemonte richtete.
Endlich brach der Abend herein, und nun wurde der Verwundete auf eine bis dahin improvisierte Tragbahre gelegt und von Richemonte und dem Schäfer nach dem Häuschen des letzteren getragen. Der Baron und Adeline folgten Arm in Arm, als ob es sich ganz von selbst verstehe, daß sie so innig zusammen gehörten.
Was an diesem Abend in der Hütte des Schäfers noch geschah und verhandelt wurde, das deckte der Schleier des Geheimnisses. Der Knecht aus Jeannette wunderte sich nicht wenig, daß seine beiden Herren so spät nach dem Gasthof zurückkehrten. Geradezu bestürzt aber war er über den aufgeregten Zustand des Barons, welcher fast an Raserei grenzte.
Das, was Saint-Marie laut schrie und erzählte, war geradezu gefährlich. Der Kapitän mußte ihn mit Hilfe des Dieners binden und knebeln. Unter diesen Umständen war von einem Hierbleiben keine Rede. Es wurde ein Wagen zur Stelle geschafft; man lud den Baron auf und verließ noch während der Nacht den so verhängnisvollen Ort.