„Siehst du, Bajazzo, daß der Changeur nobel ist?“ fragte der frühere Wortführer. „Er beginnt zu regalieren, nachdem er kaum hereingetreten ist!“
Der Changeur nahm bei den übrigen Platz, während Sally, schmollend über seine Weigerung, sich zu ihr zu setzen, sich entfernte, um das Verlangte herbeizuholen.
„Bajazzo?“ fragte er, den Alten betrachtend. „Ein neuer Kamerad?“
„Ja. Ein alter Sünder, dem man Vertrauen schenken kann“, wurde ihm dieser vorgestellt.
„In was arbeitet er?“
„In allem. Er nimmt mit, was er bekommen kann. Der Mann war nämlich bei der Truppe eines maurischen Gauklers, den man Abu Hassan, den Zauberer, nennt. Dort ist seine Stieftochter, die Turmseilkünstlerin, vom Seil gestürzt und hat den Hals gebrochen, und vor Schmerz darüber ist er der Gesellschaft mit der Kasse und diesem prachtvollen Anzug durchgebrannt.“
„Schuft!“ rief der Bajazzo.
„Schweig!“ rief der andere. „Deine Art und Weise kenne ich! Ah, da kommt der Wein und der Absinth. Laßt uns einschenken und anstoßen! Wer weiß, wie oft wir noch in dieser Weise beisammen sein können.“
„Hast du Sorge, daß man dich erwischt und einsteckt?“ fragte die Kellnerin, welche vorhin dem Bajazzo einen Kuß gegeben hatte.
„Halt das Maul, Betty! Es handelt sich hier um ganz andere Dinge!“
„Wichtige natürlich!“ meinte sie schnippisch.
„Ja, sehr wichtige!“
Er schenkte sich und den anderen ein und erhob sich dann.
„Stoßt an!“ forderte er sie auf. „Der alte Kapitän soll leben!“
Sie stießen zwar mit an, waren aber über diesen unerwarteten Toast so erstaunt, daß sie zu trinken zögerten.
„Der alte Kapitän? Wer ist das, Levier?“ fragte einer von ihnen.
Das französische Wort Levier bedeutet Brechwerkzeug, Brecheisen. Diesen Namen trug der Mann, eine deutliche Erklärung des Handwerkes, welches er betrieb.
„Wer der alte Kapitän ist?“ meinte er. „Ich dachte, daß es doch wenigstens einen unter euch geben werde, der ihn kennt oder doch von ihm gehört hat. Ich habe ihn auch noch nicht gesehen; aber es steht zu erwarten, daß bald die Zeit kommt, in welcher wir ihn kennenlernen werden. Dann blüht unser Weizen; dann wird es viel, viel besser für uns, als es jetzt ist. Darauf könnt ihr euch verlassen.“
„Wieso? Rede! Sprich!“ erscholl es von allen Seiten.
Auch Sally kam herbei, um die Sache mit anzuhören. Sie setzte sich neben den Changeur und legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter. Er zuckte bei dieser Berührung leicht zusammen, ließ es ihr aber weiter sonst nicht merken, ob diese Annäherung ihm angenehm sei oder nicht.
„Nun“, begann Brecheisen seine Erklärung mit wichtiger Miene. „Ihr wißt doch, daß der Marschall Niel schon längst unserer Armee eine neue Organisation gegeben hat?“
„Natürlich weiß ich das!“ antwortete sein Nachbar.
„Ja, du vor allen Dingen mußt das wissen, Rossignol. Du warst ja ganze drei Monate Soldat, machtest aber lange Finger und mußtest am Schluß der Strafzeit das Unglück haben, daß man dich nicht mehr bei der Armee sehen wollte.“
Rossignol heißt Nachtigall, aber auch Dietrich. Der also Genannte war also auch ein Einbrecher. Er lachte und sagte dann:
„Ja; sie meinten, ich hätte keine Ehre mehr. Dummheit und Ehre! Ich kam auf diese Weise vom Militärdienst frei. Aber fahre doch fort, Brecheisen!“
„Nun“, ließ der andere sich weiter vernehmen, „schon als im Jahre siebenundsechzig wegen der luxemburgischen Frage der Tanz beginnen sollte, bildeten sich Schützengesellschaften, welche den Namen Sociétés des Franctireurs erhielten. Die Sache schlief aber leider damals ein, denn dieser Bismarck wagte es, uns einen Strich durch die Rechnung zu machen. Jetzt aber ist alle Aussicht vorhanden, daß diese Gesellschaften Arbeit erhalten werden.“
„Wieso denn?“
„Das fragst du noch? Weißt du denn, was man unter einem Franctireur versteht?“
„Nun, einen bewaffneten Franzosen, welcher das Recht hat, jeden Feind seines Vaterlandes niederzuschießen.“
„Das ist richtig und doch auch falsch. Schon jeder Soldat der Linie und der Mobilgarden wäre dann ja ein Franctireur. Man beabsichtigt allerdings, Gesellschaften von freien Schützen zu bilden und sie den verschiedenen Armeekorps beizufügen. Das sind Privatleute, welche vom Kaiser das Recht erhalten, ihr Vaterland zu verteidigen. Kein Völkerrecht kann ihnen etwas anhaben. Selbst wenn man sie ergreift, müssen sie als einfache Kriegsgefangene behandelt werden, welche man ordentlich verpflegt und nach dem Friedensschluß wieder frei läßt. Aber ich meine, es ist sehr gut, für das Vaterland zu kämpfen, noch besser und gescheiter aber ist es, für sich selbst ein wenig den Freischützen zu spielen. Ist das nicht wahr, Dietrich?“
„Das denke ich auch!“ antwortete der Gefragte.
„Es wird noch mehrere, noch viele, viele geben, welche ebenso denken. Diese werden nicht so dumm sein, sich der Armee anzuschließen, um für geringe Löhnung und elendes Kommißbrot sich totschießen zu lassen, sondern sie werden eigene, freie Kompanien bilden und ohne ihre Gesundheit, ihre Freiheit und ihr Leben zu riskieren, ihre nächste Pflicht erfüllen, nämlich vor allen Dingen auf ihren persönlichen Vorteil sehen.“
„Das wäre gar nicht übel. Aber das geht ja nur dann, wenn man Krieg hat.“
„Nun, den werden wir wohl haben!“
„Mit wem?“
„Donnerwetter! Mit wem anders, als mit diesen Deutschen, an denen wir Rache für Sadowa zu nehmen haben!“
„Was geht uns Franzosen Sadowa an!“
„Du bist ein Dummkopf! Stehen wir nicht an der Spitze der Zivilisation oder –“
„Ja“, unterbrach ihn der andere lachend, „wir stehen an der Spitze der Zivilisation, denn du heißt Brecheisen, und mich nennt man Dietrich!“
„Mache keine albernen Witze! Selbst in unserem Handwerk sind wir den Deutschen weit überlegen. Der Deutsche ist ein Tölpel in jeder Beziehung. Er bekommt seine Weine und Moden, seine Seiden- und seine Lederwaren, seine Parfums und Odeurs, seine ganze Bildung von uns. Wir sind seine Herren. Er aber hat es gewagt, mit Österreich Krieg zu führen und Frieden zu schließen, ohne uns zu fragen. Er hat seitdem unsere Politik auf jede mögliche Art und Weise durchkreuzt. Wir wollen Rache für Sadowa, und er muß Haue haben! Ich sage euch, daß so etwas in der Luft liegt. Wohin man kommt, hört man von weiter nichts als von Depeschenwechsel und Krieg sprechen. Und macht man Augen und Ohren auf, so hört man nicht nur, sondern man sieht auch, daß überall eine gewisse Aufregung herrscht und daß allerlei heimliche Anstalten getroffen werden, welche sich nur auf den baldigen Ausbruch eines Krieges beziehen können.“
„Und steht das mit deinem alten Kapitän in Beziehung?“
„Natürlich. Er wird nämlich einer der Kommandanten der Franctireurs sein.“
„So muß man ihn kennenlernen. Wo wohnt er, und wie heißt er denn?“
„Er wohnt in Schloß Ortry bei Thionville und heißt Albin Richemonte. Er soll bereits ein steinalter Herr sein und die Kriege und Siege des ersten Kaiserreichs mitgemacht haben. Er ist ein Held der Kaisergarde und steht mit den höchsten Herrschaften des Hofes in Verbindung. Daher hat man ihm diesen Posten anvertraut. Er sendet jetzt geheime Emissäre umher, und einer dieser Leute hat mich beauftragt, Leute für ihn zu werben.“
„Alle Donner! Das klingt ja recht ernsthaft!“ rief Dietrich.
„Ernsthaft ist es auch! Dieser alte Kapitän soll irgendwo ein ungeheures Lager von Waffen und Munition bereits seit Jahren angelegt haben, und von Tag zu Tag wird es vervollständigt. Er hat in den nahen Departements bereits angeworben und nun, wie ich bereits sagte, seine Emissäre nach Paris geschickt, um weitere Teilnehmer zu engagieren. Jede Kompanie darf sich ihre Offiziere und Unteroffiziere selbst wählen, nur unter der Bedingung, daß das Oberkommando respektiert werde. Machen wir mit, so können wir Offiziere werden. Nach Stand und Vergangenheit wird nicht gefragt, auch nach dem Alter nicht; nur wird vorausgesetzt, daß sich allein tüchtige Kerls melden. Wenn ihr wollt, so werde ich den Emissär morgen mitbringen.“