„Aber wenn es so sehnlichst einen wünscht und doch keinen erhält!“
„So muß es Geduld haben. Du kennst die Liebe nicht. Gerade wenn man sie überlaut ruft, zieht sie sich zurück.“
Er hatte unwillkürlich ihre Hand ergriffen. Es war dies das erstemal, daß es geschah, und bei dieser Berührung trieb ihr der Herzschlag das Blut empor, daß ihr Gesicht vor Glück erglühte. Dieses arme Mädchen war vielleicht ohne eigenes Verschulden durch die Verhältnisse von Stufe zu Stufe in die Tiefe getrieben worden. In einer Weltstadt steigt und fällt man leichter als anderswo, auch moralisch.
„Sie zieht sich zurück?“ fragte sie aufatmend. „Sie wäre also dennoch da und wollte bloß sich nicht erblicken lassen?“
Sie sah ihm dabei so warm, so innig, so sehnsüchtig in die Augen, daß er, ganz ohne es zu wollen, ihre Hand drückte.
„Oh“, meinte er, „sie will sogar, daß man nicht einmal von ihr spricht, wenigstens so lange nicht, bis sie selbst das Wort ergreift.“
Sie schüttelte traurig den Kopf.
„Ich verstehe dich nicht ganz. Ich höre nur, daß ich schweigen soll, und ich werde schweigen. Aber als ich dich stets so kalt sah, während andere so viel anders sind, so dachte ich, daß mein Herr doch recht haben könnte.“
„Recht? Worin?“
„Er hält dich für einen Polizisten. Er traut dir nicht.“
„Da ist er allerdings kein sehr scharfsinniger Mann. Er traut mir nicht? Also deshalb mußte ich den Tisch verlassen?“
„Ja, deshalb.“
„Er hätte mich ruhig und unbesorgt sitzen lassen können. So lange er mir nicht schadet, hat er auch von mir nichts Schlimmes zu erwarten. Aber neugierig bin ich doch, zu wissen, was es ist, weshalb man mich forttrieb.“
„Ich weiß es auch nicht.“
„Wirklich nicht?“
„Nein“, antwortete sie im Ton der Aufrichtigkeit. „Ich kann dir allerdings anvertrauen, daß er einer der berühmtesten Hehler der Hauptstadt ist, aber beweisen könnte selbst ich ihm nichts. Er duldet niemals, daß man ihn beobachtet. Um ein solches Geschäft scheint es sich auch heute zu handeln.“
„So geht es mich allerdings nichts an. Schweigen wir also darüber.“
„Daraus sehe ich, daß du allerdings kein Detektiv bist, denn ein solcher würde mich so weit wie möglich ausfragen. Wenn Vater Main nämlich eine Sendung gestohlener Waren erwartet, so ölt er stets zuvor die Angeln der alten Tür ein, welche sich hinten in der Mauer befindet.“
„Das hat er heute also auch getan?“
„Ja. Ferner verbietet er uns, das Schanklokal zu verlassen. Erst wenn die Ware geborgen und der Hof wieder leer ist, meldet er, daß wir nun wieder hinaus dürfen.“
„Dieses Verbot hat er auch heute ausgesprochen?“
„Ja. Wir dürfen nicht einmal die Treppe empor. Er muß eine ungewöhnlich bedeutende Sendung erwarten, denn er hat ein Zimmer des dritten Stockes ausgeleert. Unbegreiflicherweise aber hat er einige Möbel hineingestellt.“
„Ich befürchte, daß er zuviel wagt und trotz seiner List doch einmal erwischt wird. Es sollte mir sehr leid tun, wenn auch du dann in Verdacht kämst!“
„Tät es dir wirklich leid?“ fragte sie erfreut. „Natürlich würden auch wir arretiert, wenn man ihn ergreift. Aber man würde uns doch laufen lassen müssen!“
„Ich würde lieber vorher laufen.“
„Wohin? Wer nimmt mich weg? Wer nimmt mich auf? Von einem Mädchen meines Standes mag kein Mensch etwas wissen. Wir sind verloren. Wer rettet uns?“
„Gibt es nicht Rettungshäuser und Magdalenenstifte?“
Sie sah ihn groß an.
„Das sagst du mir? Du?“ fragte sie. „Soll ich in ein solches Haus gehen, um mich dort höhnen zu lassen? Ist der Mensch ein Material, an welchem man Experimente macht? Habe ich mich dann einige Jahre gut geführt, so bekomme ich ein Zeugnis, daß ich eine gebesserte Sünderin bin, der man doch aus Mitleid Vertrauen schenken und irgendeine Arbeit geben möge. Nein! Entweder sterbe ich hier, oder ich steige aus diesem Elend empor an einen Ort, an welchem man mich nicht kennt, an welchem ich leben und arbeiten kann, ohne mich bis an das Ende meiner Tage schämen zu müssen!“
Er fühlte, was sie sagen wollte; er begriff, daß sie nicht ganz unrecht habe, obgleich sie ihren Gedanken nicht den gehörigen Ausdruck zu geben vermochte. Dieses Mädchen besaß doch vielleicht noch genug Kraft, sich aufzuraffen und so sagte er, von Mitleid bewegt:
„Wenn du nun die Mittel hättest, ein anderes Leben zu beginnen, würdest du niemals wieder Kellnerin an einem solchen Ort werden?“
„Niemals, nie! Ich würde lieber arbeiten, daß mir die Haut von den Händen fiele. Aber woher soll ich diese Mittel nehmen? Ich habe niemand, der sich meiner erbarmt!“
Die Tränen waren ihr in die Augen getreten. Er fühlte sich aufrichtig bewegt und meinte:
„Hast du nicht mich?“
„Dich? O ja, an dich würde ich glauben. Dir traue ich es zu, daß du mir helfen möchtest. Aber es wäre ja Wahnsinn zu glauben, daß du mich zu dir nehmen wolltest.“
„Ich sehe, daß du verständig bist, Sally. Du liebst mich, und ich hege eine innige Teilnahme für dich; aber unsere Wege führen uns auseinander. Dennoch werde ich dich bitten, eine Summe von mir anzunehmen, welche dich in den Stand setzt, ein gutes Mädchen und dann vielleicht auch eine glückliche und geachtete Frau zu werden.“
Sie war bleich geworden. Ihr Auge ruhte auf ihm mit einem Ausdruck, den er nicht zu definieren vermochte. Was für Regungen kämpften jetzt in ihrem Innern miteinander? Hatte sie vielleicht doch einen Augenblick lang geglaubt, daß sie die Frau dieses Mannes werden könne, den sie ja doch auch nur für einen mit den Gesetzen Zerfallenen halten mußte? Endlich, endlich kehrte die Farbe wieder in ihr Gesicht zurück. Sie ergriff seine beiden Hände und fragte leise und mit bebenden Lippen:
„Wolltest du das wirklich tun, Arthur, wirklich?“
„Ja“, antwortete er, „und zwar gern, sehr gern!“
Da legte sie die Hände wie betend zusammen, blickte ihm mit rührender Dankbarkeit in das Gesicht und flüsterte:
„Oh, mein Gott, so könnte ich zu meinem Bruder gehen!“
„Wie? Du hast einen Bruder?“
„Ja. Wir waren Waisenkinder und wurden von einer alten Frau erzogen, mit welcher wir betteln gehen mußten. Mein Schicksal kennst du. Mein Bruder war glücklicher. Er entfloh dem Weib, weit fort von Paris, und wurde Knecht auf einem Gut. Das ist er noch. Vielleicht bringt er es so weit, daß ich dort einen Dienst finde.“
„Das wollen wir uns überlegen. Morgen komme ich wieder und werde dir Bescheid sagen. Jetzt wollen wir nach dieser Aufregung ein kurzes, beruhigendes Spielchen machen.“
Er griff nach dem Damebrett, welches beim nahen Fenster lag, und begann, die Steine zu ordnen. Er hatte zwei Gründe dazu. Einmal wollte er von dem jetzigen Thema ablenken, und sodann sagte er sich, daß es ihm während des Spiels vielleicht gelingen werde, etwas von der leisen Unterhaltung zu hören, die hinter ihm geführt wurde.
Sally spielte leidlich Dame. Sie war glücklich, bei dem Geliebten sitzen zu dürfen, und hatte nichts gegen seinen Vorschlag einzuwenden. Er war ein Meister und ihr weit überlegen; aber dennoch tat er vor jedem Zug, als ob er denselben reiflich überlegen müsse. Während dieser Augenblicke lauschte er aufmerksam hinter sich, und es gelang ihm wirklich, einiges zu vernehmen.
„Ist der alte General wirklich so reich?“ hörte er fragen.
„– hunderttausend Franken wird er bezahlen, um sie wieder zu bekommen“, lautete die Antwort, deren ersten Teil er nicht hatte verstehen können.
„– eines Generals entführen?“ klang es weiter.
Jetzt mußte der Changeur einen Zug tun. Sally sprach einige kurze, bemerkende Worte, und erst dann hörte er hinter sich wieder die flüsternde Stimme des Wirtes:
„– Fiakerkutscher – Nummer aufgeklebt – Haartouren und Bärte – so teilen wir – mir wird niemand etwas nachweisen können.“