Zwei Straßen weiter, da, wo es jetzt nur noch vereinzelte Passanten gab, standen vier Männer, zwei hüben und zwei drüben auf dem Trottoir. Sie hielten die beiden Enden eines dünnen aber festen Seiles, welches quer über die Straße reichte, in den Händen. Da hörten sie das laute Rasseln von zwei Wagen, welche sich mit großer Geschwindigkeit näherten.
„Aufgepaßt!“ rief der eine hinüber zu den beiden anderen.
„Werden sie es auch wirklich sein?“ antwortete es herüber.
„Ja. Horch, das Zeichen!“
Der Lenker des Fiakers klatschte viermal laut mit der Peitsche. Die vier Männer zogen das Seil fest. Die Pferde der Equipage kamen im schnellsten Tempo heran, rannten an das Seil, verfingen sich in demselben und stürzten zu Boden. Die Deichsel brach ab; der Wagen erlitt einen gewaltigen Stoß und blieb dann stehen. Der Kutscher war vom Bock gerissen und der Diener hinten von seinem Tritt geschleudert worden. In den Doppelschrei, welchen sie ausstießen, mischte sich der laute Schreckensruf der Dame.
In demselben Augenblick hielt der Fiaker neben dem Gewirr von Equipage, Pferden, Kutscher und Diener, welche beide letzteren noch gar nicht Zeit gefunden hatten, sich wieder aufzuraffen.
„Herein!“ rief der Lenker des Fiakers.
Die Dame stieß einen zweiten Schrei aus; es war ein Hilferuf. Vier starke Arme hatten sie erfaßt. Sie wurde im Nu aus den Kissen ihres Wagens gerissen und hinüber in den Fiaker gezogen, in welchen die beiden Männer mit sprangen.
„Fort!“ gebot der eine derselben.
Der Wagen setzte sich in Bewegung und jagte rasenden Laufes davon. Die unglückliche Dame wollte abermals rufen, aber zwei harte, knochige Hände verschlossen ihr den Mund, in welchen ihr dann mit bewundernswerter Geschicklichkeit ein Knebel geschoben wurde. Sie wollte sich wehren, doch Arme und Beine wurden ihr zusammengepreßt und dann mit Stricken gefesselt. Man hörte nur noch ein kurzes, durch den Knebel unterdrücktes Stöhnen, dann war es still.
„Wie steht es?“ fragte der Kutscher, sich rückwärts wendend, während er die Pferde unaufhaltsam ausgreifen ließ.
„Gut!“ wurde geantwortet. „Sie ist ohnmächtig.“
„Das können wir uns nicht besser wünschen.“
„Es hat überhaupt alles prachtvoll geklappt. Die hunderttausend Franken sind so gut wie verdient!“ –
Als die Ohnmächtige wieder zu Bewußtsein kam, vermochte sie noch immer nicht, ihre Arme und Füße zu bewegen. Sie waren ihr noch immer fest angebunden; aber sie befand sich nicht mehr in dem Wagen, sondern in einem kleinen Stübchen, in welchem außer den nackten, kahlen und schmutzigen Wänden nichts zu sehen war als ein elender Tisch und ein noch viel elenderer Stuhl. Auf dem Tisch steckte in dem Hals einer Flasche ein stinkend brennendes Talglicht. Die Tür schien verschlossen zu sein. Gefesselt war die Gefangene an zwei eiserne Haken, welche unterhalb Knie- und Schulterhöhe in die Mauer eingetrieben waren.
Sie mußte sich besinnen, was mit ihr geschehen war. Das Gedächtnis kehrte ihr erst langsam zurück. Sie dachte an die große Oper und an den, welchen sie dort bereits einige Male in der Nachbarloge gesehen hatte. Sie kannte ihn nicht. Wer war er? Dann war sie nach Hause gefahren und unterwegs bei dem Unfall, welcher ihr begegnet war, aus dem Wagen gerissen, in einen anderen gebracht und dort gefesselt und geknebelt worden.
Damit war sie bei der Gegenwart angelangt. Was wollte man mit ihr? Wo befand sie sich? Wer waren die fürchterlichen Männer, welche sich ihrer bemächtigt hatten?
Indem sie sich diese Frage stellte, kam eine entsetzliche Angst über sie. Man hatte sie auf eine ebenso raffinierte wie gewaltsame Weise ergriffen und hierher gebracht. Es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, um einzusehen, daß der Sturz ihrer Pferde mit der Entführung im innigsten Zusammenhang stehe. Sie sann und sann, um sich einer Person ihrer Bekanntschaft zu erinnern, welche sie eines solchen Vorgehens für fähig halten und welcher sie Veranlassung dazu gegeben haben könne. Vergebens; es fiel ihr niemand ein.
Sie hatte Anbeter gehabt; aber dieselben waren ja nicht beleidigt, sondern nur mit stillabweisender Gleichgültigkeit von ihr behandelt worden. Einen wirklichen Feind, welcher Grund zu einem solchen Akt der Rachgier zu haben vermeinen könne, kannte sie nicht. Eine entsetzliche Angst erfaßte sie, und diese wuchs, je weniger sie eine Erklärung dafür finden konnte, daß man sich in einer rohen Weise ihrer Person versichert hatte.
Warum schloß man sie nicht einfach ein? Warum fesselte man sie an die Mauer? Sie hätte ja nicht zu entfliehen vermocht, denn die Tür war verschlossen, und das Zimmer hatte nicht ein einziges Fenster. Es glich einer alten Rumpelkammer, welche nur zu dem Zweck angelegt war, allerlei altes, unbrauchbar gewordenes Gerät dort aufzubewahren.
Sie war keineswegs ein von der Natur furchtsam angelegtes Menschenkind, aber ihre jetzige Lage flößte ihr doch ein Gefühl ein, für welches der Ausdruck Besorgnis zu schwach war.
Daß sie in außerordentlich rohe, gewalttätige und rücksichtslose Hände geraten sei, hatte sie bereits erfahren. Beim Schein des qualmenden Lichts sah sie, daß man ihre kostbare Toilette in Fetzen gerissen hatte. Was stand also zu erwarten? Mochte das, was man mit ihr beabsichtigte, sein, was es wolle, auf Schonung und Achtung durfte sie keineswegs rechnen.
Sie mußte trotz der Angst, welche sie empfand, tief erröten, wenn sie an sich herniederblickte und den Zustand sah, in welchem sich ihre Kleidung befand. Der Überwurf, welchen ihr der Diener in die Loge gebracht hatte, war gar nicht mehr vorhanden. Die feinen Brüsseler Spitzen, welche Brust und Nacken so entzückend umhüllt hatten, waren zerrissen, so daß die Schönheit ihrer Büste den Blicken derer, welche sie erwarten mußte, preisgegeben war, und der übrige Teil der seidenen Robe hing ihr ebenso in Stücken um den Leib.
Es wurde ihr heiß und kalt zu gleicher Zeit. Sie hätte um Hilfe rufen mögen, aber sie sah ein, daß man sie jedenfalls an einen Ort gebracht habe, von welchem aus ein solcher Ruf nicht gehört werden könne.
Da hörte sie draußen ein Geräusch. Es war an der Tür. Man nahm ein Vorlegeschloß ab; eine Eisenstange klirrte, und dann wurde die Tür geöffnet. Ein Mann trat ein. Man konnte seine Gestalt ebenso wenig wie sein Gesicht erkennen, denn die erstere war in einen alten, abgetragenen Domino gehüllt, und vor dem letzteren war eine ebenso ziemlich defekte Larve von Papiermache befestigt. Es ließ sich annehmen, daß der Kerl auch den Ton seiner Stimme, welcher übrigens bereits durch die Larve ein anderer werden mußte, verbergen werde.
Bei seinem Eintritt wollte sie unwillkürlich mit den Händen nach dem Busen fahren, um diesen den Blicken dieses Menschen schamvoll zu entziehen; aber es ging ja nicht. Ihre Arme waren in der Weise an die Mauer befestigt, daß die Ausführung einer solchen Bewegung zur Unmöglichkeit wurde.
Er machte die Tür hinter sich zu, betrachtete sie eine Weile wortlos und nahm dann auf dem Stuhl Platz.
Sie wollte sprechen, sie wollte ihn mit einer ganzen Flut von Fragen und Vorwürfen überschütten, aber sie brachte es nicht fertig. Der Hals war ihr wie zugeschnürt, ihr Herz klopfte ungestüm, sie rang nach Atem, ihr Angesicht war so blaß wie dasjenige einer Leiche geworden.
Da endlich begann er zu sprechen. Seine Stimme klang dumpf und drohend unter der Maske hervor. Die natürliche Klangfarbe derselben war unmöglich zu erkennen.
„Ich warne Sie, ein Wort so laut auszustoßen, daß es weiter gehört werden kann als bis zu diesem Stuhl“, sagte er. „Auch warne ich Sie, irgendeinen Vorwurf oder eine Schmähung auszustoßen. Es würde Ihnen nicht nur nichts helfen, sondern Ihre Lage nur verschlimmern.“