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Da oben war noch ein Fenster erleuchtet; es stand offen, und eine Frau sah heraus.

„Das ist Alice“, murmelte er. „Sie wird ihren Bruder, erwarten. Oder sollte sie vielleicht meinen, daß ich doch noch kommen könne? Ich werde ihr zeigen, daß ich da bin.“

Er trat auf die Mitte der Straße und hustete einige Male halblaut. Als er dies wiederholt hatte, bog sich der Kopf noch weiter heraus, und eine unterdrückte Stimme fragte:

„Robert, bist du es?“

Das war der Name ihres Bruders.

„Nein!“ antwortete der Diener empor.

„Monsieur Martin?“

„Ja.“

„Warten Sie!“

Der Kopf verschwand. Martin trat zur Türe. Nach kurzer Zeit wurde im Schloß derselben leise ein Schlüssel herumgedreht, sie öffnete sich, und das Mädchen trat leise heraus.

„Ah, Sie Böser!“ flüsterte sie. „Ich habe so lange gewartet. Warum kamen Sie nicht?“

Er ergriff ihre Hand, zog dieselbe an seine Lippen und antwortete ebenso leise, wie sie gesprochen hatte:

„Und ich habe so lange, so sehr lange wie auf der Tortur gesessen. Ich freute mich auf Sie; ich sehnte mich so sehr nach Ihnen und konnte nicht fort.“

„Wo waren Sie, was hielt Sie ab?“

„Es gab Berichte nach Hause zu senden. Monsieur Belmonte diktierte, und ich mußte schreiben. Erst vor zwei Minuten sind wir fertig geworden.“

„Dieser böse Belmonte!“

„Oh, ich bin sonst sehr zufrieden mit ihm; heute konnte er selbst nicht anders. Werden Sie mir verzeihen?“

„Ich muß wohl, da Sie nicht der Schuldige sind. Aber ich darf nicht hier stehen. Man könnte kommen und mich hier überraschen. Waren da oben noch viele Fenster erleuchtet?“

„Nein, nur das Ihrige.“

„So sind alle Bewohner zur Ruhe gegangen. Ich werde das auch tun, nun ich Sie wenigstens gesehen habe.“

„O nein, nein, tun Sie das noch nicht! Wann ging Monsieur Ihr Bruder fort?“

„Er war noch gar nicht hier; er ist seit Mittag nicht nach Hause gekommen. Ich hätte Sie also auch nicht oben bei mir empfangen können.“

„Auch jetzt nicht?“

„Nein. Er kann in jedem Augenblick nach Hause kommen.“

„Das befürchte ich nicht. Er hat viel und notwendig zu arbeiten gehabt, so daß er zum Abendessen doch zu spät gekommen wäre; daher hat er es vorgezogen, das Souper in seiner Weinstube einzunehmen. Da befindet er sich noch. Und Sie kennen ihn ja: Ist er einmal dort, so bleibt er bis längere Zeit nach Mitternacht.“

„Das ist leider wahr!“ seufzte sie.

„Darum bliebe uns immer ein Stündchen übrig, vielleicht auch zwei. Wollen Sie mich wirklich abweisen, nachdem ich mich so sehr nach Ihnen gesehnt habe?“

Sie ging ein Weilchen mit sich zu Rate; dann meinte sie:

„Man kann doch unmöglich so spät noch einen Herrenbesuch empfangen.“

„Es wird ja niemand etwas bemerken.“

„Ich möchte nicht haben, daß Sie eine ungute Ansicht von mir erhalten, Monsieur Martin.“

„Oh, wenn es nur das ist, so kann ich Sie sehr leicht beruhigen.“

Er nahm auch ihre andere Hand in Beschlag und fuhr dann fort:

„Sagen Sie mir einmal, Mademoiselle Alice, ob es Ihnen lieb sein würde, wenn wir wieder auseinandergehen müßten.“

„Lieb? Wie könnte mir das lieb sein.“

„Sie meinen also, daß es besser sei, wir lernen uns kennen?“

„Ja“, flüsterte sie.

„Nun wohl! Wie aber wollen wir das bewerkstelligen? Des Tages muß ich in dieser großen Stadt herumgehen, um für unser Geschäft tätig zu sein, also können wir uns doch nur des Abends sehen und sprechen.“

„Aber nicht so spät!“

„Wenn ich nun nicht eher kann?“

„So müssen wir unsere Zusammenkünfte auf solche Abende verlegen, an denen Sie Muße dazu haben.“

„So glauben Sie also, daß ich sehr lange hier bleiben werde?“

„Ja. Ist es nicht so?“

„Nein. Wir haben auch anderwärts sehr viel zu tun. Es kann bereits morgen für mich die Weisung eintreffen, Paris zu verlassen.“

Sie erschrak; das fühlte er am Zucken ihrer Hände.

„Das habe ich nicht gewußt“, meinte sie im bedauernden Ton.

„Sie sehen also ein, daß mir ein jeder Augenblick, in welchem ich bei Ihnen sein kann, kostbar und teuer sein muß. Ich wünsche, daß Sie mich kennenlernen, und Sie versagen es mir!“

„O nein, Monsieur Martin, ich versage es Ihnen ja nicht!“

„Aber Sie wollen mich ja fortschicken! Wie nun, wenn ich morgen abreisen muß!“

„Es würde mir sehr, sehr leid tun! Aber Sie würden doch wohl wiederkommen?“

„Wenn wir hier einmal fertig sind, können Jahre vergehen, ehe ich zurückkehre. Hätte ich eine Geliebte, eine Braut hier zurückgelassen, so würde ich gern die Erlaubnis erhalten, sie zu besuchen. Aber einer Dame wegen, welche ich nur flüchtig kennengelernt habe, erhalte ich die Erlaubnis nicht.“

Sie schwieg nachdenklich, und nach einer Weile sagte sie:

„Sie mögen recht haben. Aber ist die Stunde nicht zu spät?“

„Mißtrauen Sie mir etwa? Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich gegen Sie nicht anders sein werde, als ich sein würde, wenn Vater und Mutter sich dabei befänden.“

„Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen mißtraue, Monsieur Martin! Wäre das der Fall, so wäre ich jetzt nicht heruntergekommen. Ich befürchte jedoch, daß mein Bruder zurückkehren und uns überraschen könnte.“

„Er würde mich nicht sehen.“

„Wie wollten Sie das bewerkstelligen?“

„Oh, diese kleine allerliebste Alice würde wohl scharfsinnig genug sein, irgendeine Weise zu ersinnen, auf welche es mir möglich wäre, mich seinem Blick zu entziehen. Vielleicht würde sie mir ein Versteck anweisen, aus dem ich mich dann erst entfernte, wenn er zur Ruhe gegangen ist.“

„Das ist immerhin bedenklich, Monsieur!“

„Der Liebe fällt nichts zu schwer!“

Da ließ sie ein leises, munteres Lachen hören und fragte:

„Sie glauben also, daß ich Sie liebe?“

Er legte den Arm um ihre Taille, zog sie an sich heran, strich ihr mit der Hand liebkosend über das weiche Haar und antwortete:

„Ich möchte es glauben, meine teure Alice! Es ist der größte Wunsch meines Lebens, mein Bild recht tief in Ihr gutes, reines Herzchen einzugraben, so daß Sie es nie und nimmer wieder vergessen können.“

Sie lehnte ihr Köpfchen leise an ihn an und sagte:

„Das sagt man oft als bloße Redensart.“

„Bei mir aber ist es die reine, wirkliche Wahrheit!“

„Ist das wahr, Monsieur?“

„Ja; ich schwöre es Ihnen!“

„So will ich es wagen, Sie heute nicht fortzuschicken, obgleich die Mitternacht bereits sehr nahe ist. Kommen Sie! Aber bitte, wir müssen sehr leise sein!“

Er trat in den nur spärlich erleuchteten Flur. Sie verschloß die Tür hinter ihm, und dann stiegen sie geräuschlos die beiden Treppen empor. Die Wohnung, welche sie betraten, war nicht luxuriös eingerichtet; aber es glänzte alles von Sauberkeit. Man sah, daß hier ein Wesen waltete, welches bereits an der Wiege von dem Geist der Häuslichkeit geküßt worden war.

Sie führte ihn in den kleinen Salon. Dort nahm sie auf dem Sofa Platz und er auf einem Stuhl neben demselben. Jetzt beim Schein der Lampe konnte man sehen, daß Martin nicht ohne Geschmack gewählt hatte. Alice war ein hübsches Mädchen. Alles an ihr war schmuck und nett; sie war wirklich zum Küssen.

„Nun sagen Sie einmal, daß ich, um Ihnen gefällig zu sein, nichts wage“, meinte sie, ihn mit offenem Auge anblickend.

„Ich wollte, ich könnte Ihnen beweisen, daß ich um Ihretwillen noch mehr wagen würde“, antwortete er. „Ich bin Ihnen herzlich dankbar für das kleine Wagnis. Vielleicht schickt es Gott, daß wir einst in einer ebenso traulichen Häuslichkeit beieinander sitzen, ohne Befürchtungen hegen zu müssen!“