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Sich unter dem Bett zu verbergen, das war eine ebenso unbequeme wie gefährliche Geschichte; aber auf dem Tisch lag eine große Decke ausgebreitet, deren Ecken bis auf den Fußboden niederreichten. Er hob also eine dieser Ecken auf, kroch hinunter und machte es sich in sitzender Stellung zwischen den vier Beinen so bequem wie möglich.

Als ihr Bruder eintrat, hatte Alice ihren Schreck noch nicht vollständig gemeistert; aber er bemerkte es nicht. Sein Gang war wankend, und seine Augen zeigten einen trüben, gläsernen Glanz. Er befand sich jedenfalls in demjenigen Zustand, welchen Martin dem Changeur gegenüber mit Käfer, Aal und Affen bezeichnet hatte. Damit waren Steigerungen der Betrunkenheit bezeichnet. Welcher Ausdruck hier der treffende sei, ob der kleine Käfer oder der große Affe, das war sehr leicht zu erkennen. Der Sekretär hatte einen riesigen Affen, einen Schimpansen, einen Orang-Utan oder gar einen riesenhaften und schrecklichen Gorilla.

„Noch nicht schlafen?“ brummte er. „Warum bist du denn noch auf?“

„Ich wollte dich erwarten“, antwortete sie. „Du bist ja noch gar nicht zu Abend gespeist.“

„Speist, Abend –“, stotterte er. „Habe gegessen – Weinstube – famoser Wein – vier Flaschen, ah!“

Er taumelte auf die Tür seines Schlafzimmers zu, hinter welcher Martin verschwunden war. Alice bekam Angst, sie faßte ihn am Arm und sagte:

„Nimm doch hier erst noch ein wenig Platz!“

„Platz?“ fragte er, sie erstaunt anstierend. „Hier erst noch! Warum? Oh!“

„Ich habe mit dir zu reden.“

„Reden? Oh – nein. Mag nicht – nicht reden. Kann nicht – nicht – mehr reden.“

Er faßte die Klinke; aber sie ließ ihn nicht los.

„Nur einen Augenblick setze dich hier nieder!“ bat sie.

„Au – augenblick – blick? Unsinn, Blick! Mag nichts erblicken – nichts sehen. Ärgere mich nicht, Mädchen. Habe mich – schon – schon sehr – sehr genug geärgert – ärgert!“

„Worüber denn?“ fragte sie, indem sie den Versuch machte, ihn wenigstens durch das Gespräch noch eine kurze Zeit festzuhalten.

Da stellte er sich kerzengerade auf, sah sie zornig an, fuchtelte mit dem Stock, welchen er noch in der Hand hielt, weit um sich herum und antwortete:

„Wo – rüber? Donnerwetter. Verdamm – dammte Depesche – pesche. Kann der Teufel holen – holen.“

„Welche Depesche denn?“

„Hatte lange – lange gearbeitet – beitet. Sitze beim Glas Wein. Kommt der Kerl – Kerl – Bürodiener. Noch eine Depesche – pesche angekommen, zum Entziffern – Ziffern. Kein Mensch mehr dagewesen. Muß sie also – also mir bringen. Depesche nach – Berlin – lin. Gebracht werden von – von einem Kerl – frecher Kerl. Muß sie einmal – einmal ansehen – sehen.“

Er öffnete die Tür, sie konnte es nicht mehr verhindern und folgte ihm mit der Lampe. Er setzte sich sofort auf einen der Stühle. Ihr Auge schweifte angstvoll im Zimmer umher. Es war keine Spur von Martin zu erblicken. Sie glaubte infolgedessen, er müsse draußen in der Arbeitsstube seine Zuflucht gesucht haben. Nun galt es, den Bruder vom Betreten derselben abzuhalten.

Dieser kramte gähnend in seinen Taschen herum.

„Was suchst du?“ fragte sie.

„Du? Du nicht. Ich suche!“ meinte er, sich verbessernd.

„Ja. Was aber denn?“

„Die – die De – die die De – Donnerwetter, die De – De – Depesche – pesche!“

„Hier wird sie sein.“

Sie zog aus seiner Seitentasche ein Schriftstück hervor. Das war aber keine Depesche; dazu war es zu dick.

„Depesche?“ fragte er. „Unsinn. Das ist – ist der Feld – Feldzugsplan – plan, gegen die Preu – reußen.“

Sie legte das Schriftstück auf den Tisch und meinte:

„Ein Feldzugsplan gegen die Preußen?“

„Ja“, nickte er. „Preu – reußen und Süddeut – deutschen.“

„Mein Gott. Gibt es denn Krieg?“

„Krieg ja! Krieg – Sieg Kei – keile und Revan – vanche! Aber pst! Still, Ruhig! Kein Mensch darf – darf es jetzt erfahren – fahren! Ich soll den Plan – Plan aufs Neue schrei – schreiben. Famos! Bismarck kriegt tüchtige Prü – rügel. Die Preu – reußen die Bay – Bayern, die Württember – berger, Westpha – phalen, die Sach – achsen und die Pom – pommer – pommeranzen. Alles kriegt Hie – Hiebe! Wo – wo – Donnerwetter, wo ist die De Die De Diepesche?“

Sie half ihm suchen und brachte schließlich den Zettel, welchen Martin nach dem Telegraphenbüro getragen hatte, in einem höchst zerknitterten Zustand aus seiner Westentasche hervor.

„Ist sie das?“ fragte die Schwester.

„Ja – ja! Muß le – le – lesen, entziff – siff – schiff – Schiffern.“

Er klaubte den Zettel mühsam auseinander und rückte mit Lebensgefahr seinen Stuhl zum Tisch.

„Aber“, meinte seine Schwester, „du wirst doch nicht noch lesen und arbeiten wollen?“

„Wa – rum nicht? Muß – muß! Pflicht – licht! Muß morgen wissen – was in der De – Depesche steht!“

„Lege dich doch lieber schlafen!“ riet sie ihm.

Sie hatte die ganz richtige Ansicht, daß Martin desto eher entkommen könne, je früher ihr Bruder schlafen gehe. Dieser sagte:

„Schla – lafen! Nein! Ich bin nicht schlä – läferig! Ich muß die de de Diepesche entziff – ziff – liff – liffern.“

„Aber du kannst ja kaum mehr lallen!“

„Lall –!“ Er warf ihr einen zornigen Blick zu. „Lallen? Ich will – nicht mehr lall –! Ich, der Se – sekre – kretär des Grafen Ralli – lion! Mä – mädchen, pack dich hi – naus!“

Er stand vom Stuhl auf, packte sie an und schob sie trotz ihres Widerstrebens zu der noch offenstehenden Tür hinaus. Und als sie sich den Eintritt wieder erzwingen wollte, rief er grimmig:

„Mache mich nicht – nicht zo – zornig! Hinaus mit dir – dir; ich muß arbei – bei – beiten.“

Bei diesen Worten drehte er den Schlüssel um und schob sogar den Riegel vor. Er hatte sich und Martin eingeschlossen.

„Wo – wo – ist die De – Depesche?“ fragte er dann.

Sie war ihm entfallen und lag am Boden. Er suchte eine Weile, fand sie aber nicht. Das ermüdete ihn. Das mühsame und in seinem Zustand gefährliche Bücken hatte ihn drehend gemacht und die Geister des Weines in doppelte Aufregung versetzt.

„Fort! Weg!“ meinte er. „Werde morgen su – suchen und sie morgen entziff – liff – liffern. Ah!“

Er gähnte, wankte zum Bett und warf sich in voller Kleidung auf dasselbe nieder.

Alice klopfte noch einige Male an die Tür, vergebens. Er antwortete gar nicht. Er drehte sich von einer Seite auf die andere und verfiel zuletzt in den tiefen Schlaf, welchen ein tüchtiger Rausch mit sich bringt.

Martin hatte in seinem Versteck alles mit angehört. Er ahnte, daß von seiner eigenen Depesche die Rede sei, und als er den Zettel am Boden liegen sah, war er sogar davon überzeugt. Aber es war auch vom Krieg und von einem Feldzugsplan die Rede. Was war damit gemeint? Bot sich ihm hier etwa gar ein Fund, welcher von Wichtigkeit sein konnte?

Er lugte unter der Tischdecke hervor. Der Schläfer regte sich nicht. Langsam und vorsichtig kroch Martin heraus und richtete sich auf. Da auf dem Tisch lag das Schriftstück. Auf die Gefahr hin, ertappt zu werden, griff er danach und schlug die erste Seite auf. Da stand in großer Frakturschrift zu lesen:

‚Entwurf des strategischen Aufmarsches der französischen Heere im Kriege gegen Preußen und Süddeutschland‘.

Es durchzuckte ihn, als ob er elektrifiziert worden sei. Er war noch jung, aber entschlossen und besonnen wie ein Alter. Diesen Entwurf durfte er nicht mitnehmen; aber wie nun, wenn es ihm gelang, eine Abschrift von ihm zu nehmen? Er klinkte leise an der Tür, welche nach dem Arbeitszimmer führte. Sie öffnete sich, ohne ein Geräusch zu verursachen.