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Er hatte sein Laternchen mit, aber das Licht derselben reichte nicht aus. Die Lampe konnte ihm gefährlich werden, wenn sie hier stehenblieb. Ihr Schein konnte den Schläfer wecken, welcher jedenfalls ruhig weiterschlief, wenn es im Zimmer dunkel war. Er ergriff sie und den Entwurf und schlich sich mit beiden in das Arbeitszimmer.

Hier gab es, wie er vermutet hatte, nicht viele Möbel. Ein Schreibtisch, ein Büchergestell und einige Stühle, das war alles, was er erblickte. Er setzte die Lampe auf den Tisch, auf welchem zehnmal mehr Papier lag, als er brauchte, und zog dann die Tür leise hinter sich zu, die er verriegelte, nachdem er aus Vorsicht den Schlüssel drüben abgezogen und hüben wieder angesteckt hatte.

Auch Tinte und Feder waren vorhanden. Er setzte sich und begann zunächst zu lesen. Falls er ja erwischt wurde, war es gut, wenn er wenigstens den Inhalt kannte. Als er zu Ende war, verklärte sich sein Gesicht.

„Welch ein Fund!“ dachte er. „Diese Blätter sind Hunderttausende wert. Wie gut, daß ich Stenographie gelernt habe; da geht es schnell. O Alice, verzeih, daß ich diesen Raub begehe, aber du bist es ja nicht, an der ich mich versündige!“

Einige Augenblicke flog der Stift mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit über das Papier. Viertelstunden vergingen, eine Stunde und noch eine, und als er zu Ende war, zog er die Uhr.

„Drei und eine Viertelstunde habe ich geschrieben“, murmelte er. „Das war eine Riesenarbeit; ich habe fast den Krampf in der Hand. Nun aber fort! Wo wird Alice sein? Sicher schläft sie nicht, sondern wartet auf mich.“

Er faltete seine Abschrift zusammen und steckte sie mit dem Gefühl zu sich, als ob es lauter Tausendtalerscheine seien. Sonach brachte er auf dem Schreibtisch alles in die gehörige Ordnung. Dann löschte er die Lampe aus, riegelte die Tür leise auf, steckte den Schlüssel wieder ein und lauschte.

Der Betrunkene schlief noch und schnarchte leise. Martin setzte die Lampe auf den Tisch und legte den Entwurf daneben. Dann schloß und riegelte er die Tür auf, welche nach dem Salon führte und die der Sekretär vor seiner Schwester verschlossen hatte. Als er hinausgetreten war und die Tür wieder in die Klinke schob, hörte er ein leises:

„Martin?“

„Ja“, antwortete er ebenso leise.

„Gott sei Dank!“

Dabei fühlte er, daß sich zwei warme, weiche Arme um ihn legten.

„Du hast auf mich gewartet?“ fragte er.

„Ja, und was habe ich für eine Angst ausgestanden. Ich glaubte, er würde dich entdecken.“

„Das wäre nicht schlimm gewesen. Ich hätte ihm gesagt, daß wir uns lieben und du mein Weibchen werden willst!“

„Und wenn er dann gezankt hätte?“

„Keine Sorge. Ich wäre schon mit ihm fertig geworden. Einmal muß er es doch erfahren.“

„Wo hast du gesteckt?“

„Unter dem Tisch in seiner Schlafstube.“

„O weh, welch eine unbequeme Situation! Du armer, armer, lieber Martin.“

Sie strich ihn mit dem Händchen liebkostend über die Wange. Er drückte sie an sich und flüsterte glücklich:

„Für dich würde ich noch viel schlimmere Situationen nicht scheuen; das darfst du mir getrost glauben, mein gutes, süßes Schwalbenweibchen!“

„Und ich war im Schlafzimmer und habe dich nicht bemerkt! Warum kamst du nicht eher?“

Er sah sich gezwungen, eine Unwahrheit zu sagen:

„Es war unmöglich. Er hatte den Zettel fallen lassen, wollte ihn aufheben und fiel nun selbst hin. Da blieb er an der Tür liegen, so daß ich sie nicht öffnen konnte. Schließlich kam ich auf den Gedanken, ihn durch leise Stöße nach und nach zu wecken. Es gelang. Er raffte sich auf und legte sich auf das Bett. Dann erst konnte ich fort.“

„Mein Gott, was mußt du denken! Er will es mir nie zur Liebe tun und weniger trinken. Kannst du denn wirklich ein Mädchen liebhaben, dessen Bruder du betrunken gesehen hast?“

„Warum nicht? Kannst du was dafür?“

„Er schläft fest?“

„Ja, sehr fest.“

„So kannst du dich also entfernen, ohne daß er es hören wird?“

„Wir sind vollständig sicher. Nun aber hast du auf den Schlaf verzichten müssen.“

„Du ebenso. Aber wir werden es nachholen, und ich werde dir sicher sagen können, daß ich von dir geträumt habe.“

Er zog sie an sich, küßte sie und fragte:

„Hast du mich denn wirklich so lieb, daß ich dir sogar im Traum erscheine?“

„Oh“, gestand sie ihm. „Es wäre wohl nicht das erstemal, daß dies geschieht.“

„So hast du bereits von mir geträumt? Ich von dir noch nicht, leider; aber ich werde es jetzt tun, wenn ich nach Hause gekommen bin. Erlaubst du mir, daß ich gehe?“

„Ja. Ich werde dich bis zur Tür begleiten.“

Sie führte ihn hinunter bis zum Eingang des Hauses, den sie öffnete. Der Morgen begann bereits zu grauen.

„Wann sehen wir uns wieder?“ fragte sie.

„Wann wünscht du, liebes Kind?“

„Ich würde mich freuen, wenn es heute möglich sein könnte.“

„Wann geht heute abend dein Bruder aus?“

„Das weiß ich nicht. Vielleicht bleibt er gar zu Hause, weil er dieses Mal so spät gekommen ist.“

„So müssen wir also leider auf den Abend verzichten.“

„Am Nachmittag befindet er sich im Büro. Da bin ich ganz allein daheim. Könntest du da nicht vielleicht kommen?“

„Nein. Monsieur Belmonte verreist, und da bin ich gezwungen, daheim zu bleiben. Wenn etwas eingeht, muß jemand da sein. Ah, da fällt mir etwas Schönes ein!“

„Was?“

„Ich bin also am Nachmittag zu Hause.“

„So wie ich.“

„Und zwar ganz allein. Gehst du zuweilen aus?“

„Nur um meine Einkäufe zu machen.“

„Spazieren nicht?“

„Höchst selten.“

„Aber heute möchte doch einmal eine Ausnahme stattfinden.“

„Warum?“

„Da ich nicht zu dir kommen kann, so könntest du mir die Freude machen, zu mir zu kommen.“

„Eine Dame auf Besuch zu einem Herrn? Das geht ja nicht!“

„Nicht eine Dame zu einem Herrn, sondern ein Schwälbchen zu ihrer Schwalbe, ein gutes Mädchen zu ihrem Verlobten, der sie so herzlich liebt und so glücklich sein würde, wenn sie zu ihm käme.“

„Ist das wahr?“ fragte sie, glücklich lächelnd.

„Du darfst ganz und gar nicht daran zweifeln.“

„Und wenn ich komme, wer öffnet mir die Tür, wer wird mich ganz erstaunt mit grimmigen Augen anblicken?“

„Nun, wer?“

„Dein Monsieur Belmonte.“

„Ich versichere dir, daß er nicht zu Hause sein wird.“

„So dürfte ich es vielleicht wagen, dir zuliebe natürlich, und weil ich bereits jetzt merke, daß ich große Sehnsucht nach dir haben werde, wenn ich dich von jetzt an bis zum Nachmittag nicht zu sehen bekomme.“

„Du gutes, gutes Schwälbchen! Ja, meine Alice, wir wollen immer so lieb und brav gegeneinander sein! Also, ich darf dich sicher bei mir erwarten?“

„Ja, obgleich es gegen die Regel ist. Um wieviel Uhr?“

„Wann du deiner Sehnsucht nicht mehr Herr werden kannst.“

„Oh, da wird es sehr zeitig werden. Aber ich weiß deine Wohnung nicht genau.“

„Rue de Richelieu 12, erste Etage. Sobald du klingelst, werde ich gesprungen kommen, um dir zu öffnen. Gute Nacht, meine Alice, mein Leben!“

„Gute Nacht, mein Martin. Behalte mich lieb.“

„Das kannst du glauben. Ich weiß, daß ich heute bei dir ein Glück gefunden habe, wie es größer gar keines geben kann!“

Er küßte sie innig auf die Lippen, welche sie ihm liebevoll darbot, und entfernte sich dann. Er hatte seine letzten Worte aus vollster Seele gesprochen. Der Fund, welchen er in dem Entwurf getan hatte, war von allerhöchstem Wert, persönlich lieber noch aber war ihm der Schatz, welchen er so glücklich gewesen war, in dem Gemüt dieses einfachen, unentweihten, reinen Mädchens zu entdecken.