„O nein, sondern im Gegenteil etwas sehr Lobenswertes.“
„So werde ich es tun.“
„Ich bezweifle es noch, obgleich es dir vielleicht tausend Franken einbringen könnte.“
Sie legte die Hände zusammen wie jemand, dem man etwas Erstaunliches, Unbegreifliches gesagt hat.
„Tausend Franken! Ist das wahr?“
„Ja, gewiß!“
„So sage mir schnell, was ich machen soll!“
„Hast du heute die Zeitung gelesen?“
„Nein. Vater Main leidet das nicht.“
„Hast du auch nicht gehört, was in den Zeitungen gestanden hat?“
„Nein.“
„Nun, ich will dir einmal mein ganzes Vertrauen schenken. Du brummtest vorhin so eigentümlich, als ich fragte, ob es Ware sei, welche man gestern abend durch das Hoftor gebracht habe. Was hat dieses Brummen zu bedeuten?“
Da legte sie ihm die Hand auf die Schulter, so, daß sie ihren Mund seinem Ohre nähern konnte und antwortete:
„Auch ich will aufrichtig sein. Es war keine Ware.“
„Was denn?“
„Eine Person.“
„Weißt du das genau?“
„Sehr genau. Ich weiß sogar, daß es ein Frauenzimmer ist.“
Der Changeur konnte seine Freude kaum verbergen, doch zwang er sich zu einem möglichst gleichgültigen Ton, in welchem er vor sich hinbrummte:
„Eigentümlich! Vater Main wird Besuch bekommen haben. Vielleicht eine Verwandte.“
„O nein! Ich war neugierig und schlich mich hinauf, als er seinen Mittagsschlaf hielt. Ich lauschte an der Tür, die mit zwei Hängeschlössern verschlossen ist, und da hörte ich ein leises Weinen. Es war die Stimme eines Frauenzimmers.“
„Hast du nicht angeklopft und gefragt?“
„Das darf ich nicht wagen. Ich bin ebenso leise fortgeschlichen, wie ich gekommen bin.“
Da nahm er, ungesehen von den beiden anderen Gästen, einige Scheine aus der Tasche, zeigte sie ihr und sagte:
„Siehe hier diese fünfhundert Franken! Die könntest du sofort als dein Eigentum einstecken, wenn du mir einen Gefallen tun wolltest.“
Ihre Augen wurden größer. Es wurde ihr hier eine Summe geboten, wie sie eine solche noch niemals besessen hatte, und doch schob sie die Hand Belmontes zurück und sagte:
„Mein lieber Arthur, ich bin ein ungutes Geschöpf geworden, halb mit, halb ohne mein Verschulden. Ich bin die Sklavin des Vaters Main; ich darf nicht auf die Gasse, nicht in den Hof; ich habe keinen Willen und kein Recht. Ich sehe, wie glücklich andere sind und möchte es auch gern sein. Die Summe, welche du mir bietest, könnte mich retten, denn wenn ich meine Schuld an den Wirt bezahle, bin ich frei. Aber ich habe nach unserer gestrigen Unterredung mir selbst das heilige Versprechen gegeben, nichts Unrechtes mehr zu tun. Dieses viele Geld kann man nur durch ein Unrecht so leicht und schnell verdienen. Ich bitte dich, es zu behalten.“
Er sah, welche Überwindung ihr dieser Entschluß verursachte und fühlte sich im Herzen tief gerührt.
„Du irrst, liebe Sally“, antwortete er. „Ich verlange kein Unrecht von dir. Es wäre ganz im Gegenteil eine Sünde oder gar ein Verbrechen, wenn du mir meinen Wunsch nicht erfüllen wolltest. Ich bin dir gut, wenn ich auch nicht von Liebe reden will, ich glaube deiner Versicherung, daß du gern ein anderes, besseres Leben beginnen möchtest; ich habe Vertrauen zu dir und weiß, daß du das, was ich von dir erbitten möchte, auch ohne Bezahlung tun würdest. Ich biete dir das Geld nur deshalb an, damit du überzeugt sein kannst, daß du, wenn du das Gute beginnst, nicht wieder zum Bösen zurückkehren brauchst.“
„Ist das wahr? Ist das wahr?“ fragte sie.
„Ich will dein Glück. Glaube es mir.“
„Gut, ich will es glauben! Was soll ich tun, Arthur?“
„So höre. Es ist gestern eine Dame geraubt worden, die Enkelin eines Grafen und Generals. Ich vermute, daß sie sich hier im Haus befindet. Die Polizei suchte bisher vergebens nach ihr, wird sie aber noch finden, und dann wird das Verderben auch dich mit erfassen.“
„Gott, ich weiß ja gar nichts davon! Warum hat man sie geraubt?“
„Um ein Lösegeld zu erpressen.“
„So haben es die fünf getan, welche jetzt bei dem Wirt draußen sitzen.“
„Ja, sie sind es. Man muß ihnen ihr Opfer entreißen. Gelingt dies mit deiner Hilfe, so darfst du auf eine hohe Belohnung rechnen.“
Sie blickte lange schweigend vor sich nieder. Er sah es ihr an, daß ihr Inneres sich in großer Aufregung befand. Endlich sagte sie leise:
„Vater Main würde sich fürchterlich rächen.“
„Das kann er nicht. Er wird unschädlich gemacht.“
„Ich fürchte die Polizei.“
„Diese soll ja gar nicht dabei sein.“
„Wie soll man die Dame sonst aus dem Haus bringen?“
„Das zu entwerfen wird deine Aufgabe sein.“
„Es geht nicht. Sobald der Wirt merkt, daß sie fort ist, würde es mir traurig ergehen.“
„Du sollst ja dieses Haus verlassen.“
Da erhob sie schnell den Kopf und fragte:
„Ihr wollt mich mitnehmen?“
„Natürlich.“
„Und für mich sorgen? Ich meine, dafür sorgen, daß der Wirt sich nicht an mir rächen kann?“
„Ja. Entschließe dich. Die Zeit drängt.“
„Arthur, ich möchte gern. Aber wenn wir ertappt werden.“
„Ich bin bewaffnet und habe einen Gehilfen mit.“
„Wer wäre das?“
„Der relegierte Student da draußen. Er ist mein Diener.“
„Dein Diener? Hast du, der Changeur, einen Bedienten?“
Er nickte ihr lächelnd zu und antwortete:
„Ich bin kein Changeur, kein Verbrecher. Ich habe das nur gesagt, um hier ungestört sitzen zu können. Wenn du tust, was ich von dir erbitte, so stehst du unter einem sichern Schutz, mein liebes Kind.“
Da blickte sie ihn verklärten Auges an und fragte:
„So bist du wohl ein vornehmer Herr!“
„Was ich bin, wirst du sehr bald erfahren; hier aber ist zu solchen Mitteilungen nicht der richtige Ort. Aus meiner Aufrichtigkeit aber mußt du sehen, welches Vertrauen ich zu dir habe.“
„Ja, ich sehe es. Und das macht mich glücklich. Sei, wer du immer seist. Ich liebe dich, und darum schmerzte es mich, dich unter den Verbrechern zu wissen. Wenn ich von dir träumte, erschienst du mir als hoch und rein, und nun ist dieser Traum zur Wirklichkeit geworden. Ja, Arthur, ja, ich bin bereit, zu tun, was du von mir verlangst. Aber beantworte mir vorher eine Frage. Liebst du die verschwundene Dame?“
Er erschrak fast über diese Frage. Aber es widerstrebte ihm, ein Wesen, welches begonnen hatte sich aus dem Schmutz emporzuringen, durch eine Unwahrheit wieder in denselben hinabzustoßen. Er wagte viel, aber er wagte es doch, indem er antwortete:
„Ja, Sally, ich liebe sie.“
„Weiß sie es?“
„Nein.“
Sie war bleich, sehr bleich geworden. Sogar aus ihren Lippen war die Farbe gewichen, und auch in ihren Augen schimmerte es feucht, als sie stockend sagte:
„Ja, mich konntest du nicht lieben. Aber daß du mir deine Liebe zu jener gestanden hast, ist der größte Beweis deines Vertrauens. Eine andere würde sich kränken und ärgern und vielleicht Schlimmes planen; aber du hast vorhin gesagt, daß du mir gut seist, und das ist fast mehr, als ich verlangen darf. Ja, Arthur, ich werde dir helfen. Ich werde sogar das Leben wagen, um dir die heimlich Geliebte zu retten: aber ich tue es nicht für Geld; ich nehme nichts von dir. Aber wenn es uns gelingt, und du wolltest mir dann für meine Beihilfe einen – einen Kuß, einen einzigen Kuß geben – Arthur, ich verlange ihn nicht, er soll nicht Bedingung sein; du darfst ihn mir verweigern; aber dieser Kuß von dir, der du kein Verbrecher bist, oh, es würde sein, als ob mir mit einem Mal alle meine Sünden vergeben wären.“
Er blickte hinüber zu zwei anderen Gästen. Der eine schlief, und der andere stierte betrunken in sein Glas. Sie beobachteten ihn und Sally gar nicht. Da legte er den Arm um sie, zog sie an sich heran und drückte seinen Mund ein-, zwei-, dreimal auf ihre Lippen. Sie schloß die Augen und ließ die Arme nieder. So lag sie eine Weile an seinem Herzen. Dann aber öffnete sie die Lider, blickte ihm mit einem langen, unergründlichen Ausdruck in die Augen und sagte, in ein leises, stilles Weinen ausbrechend: