„Weil wir Unannehmlichkeiten haben werden.“
„Pah! Ich habe gute Legitimationen.“
„Das reicht nicht aus. Man wird fragen, was wir in der berüchtigten Taverne zu tun hatten.“
„Ich als Weinhändler muß auch solche Orte besuchen.“
„Man wird uns wiederholt bestellen.“
„Ich werde sagen, daß wir morgen abreisen müssen.“
„Ist das wirklich ernstlich gemeint?“
„Ja. Wir haben hier in Paris mehr erfahren, als wir für möglich hielten. Ein längerer Aufenthalt könnte unserm Inkognito gefährlich werden.“
„Aber noch gestern sagten Sie, daß wir hier noch drei Tage zu arbeiten hätten, um unsere Beute zu Papier zu bringen.“
„Das können wir auch in Metz tun. Ich glaube sehr gern, daß es dir schwer wird, dich von deinem Schwälbchen zu trennen.“
„Pah! Wie lange wird es dauern, so komme ich wieder geflogen. Aber Abschied zu nehmen, werden Sie mir wohl erlauben.“
„Das versteht sich ganz von selbst.“
„Wann?“
„Wann es dir beliebt.“
„Hm! Heut abend paßt es nicht, weil ich da für Ihre Sicherheit zu sorgen habe. Wie wäre es nach dem Verhör?“
„Das wird das beste sein. Sobald du jetzt den Bericht fertig hast, besorge ich ihn zum Kurier; dann treffen wir uns im Stadthaus, und nachher suchst du die Schwalbe auf. Ich wünsche euch angenehme Schnäbelei.“
„Danke. Mit Hofdamen läßt es sich wenigstens ebenso angenehm schnäbeln, obgleich ich nicht glaube, daß Ihre Unbekannte es an Liebeswürdigkeit mit Alice aufnehmen kann.“
„Oho! Ist sie gar so hübsch?“
„Gewiß!“ nickte Martin. „Wollen Sie sich überzeugen?“
„Danke! Ich will nicht stören.“
„Das würde keine Störung sein. Ich bin im Gegenteil überzeugt, daß Alice sich sehr freuen und sich sehr geehrt fühlen würde, wenn ein gewisser Monsieur Belmonte die Güte haben würde, einmal bei ihr vorzusprechen.“
„Meinst du wirklich?“
„Gewiß. Wollen Sie?“
„Gut! Ich werde kommen. Ich will auch gern gestehen, daß ich neugierig bin, den Fisch zu sehen, welcher den Angler in das Wasser hinabgezogen hat. Also arbeiten wir jetzt.“
Nachdem Belmonte seine Briefe und Martin die Reinschrift angefertigt hatten, gingen sie beide fort. Der erstere besorgte die Skripturen zum Kurier und auf die Post, und der letztere trollte langsam durch die Straßen, um nach dem Stadthaus zu gelangen. Er hatte noch Zeit, und so kam ihm der Gedanke, die Taverne des Vater Main aufzusuchen, um einmal zu sehen, welche Veränderung dort eingetreten sei.
Er fand vor der Tür einen Polizisten, welcher Wache stand.
„Was wollen Sie?“ fragte dieser.
„Ein Glas Wein trinken.“
„Hier wird heute nicht geschänkt. Ah, haben wir uns nicht bereits gesehen, Monsieur?“
„Möglich. Wo?“
„Gestern abend. Sie kamen, um die Anzeige zu machen, daß Sie die Komtesse de Latreau gerettet hätten.“
„Richtig; das bin ich gewesen.“
„Ah, so können Sie eintreten. Sie werden vielleicht die Güte haben, uns das Abenteuer zu erzählen. Wir wissen noch nicht das mindeste über dasselbe.“
Er öffnete die Tür, und nun bemerkte Martin, daß sich mehrere Männer in der Kneipe befanden, welche sich als verkleidete Polizisten entpuppten. Er erzählte ihnen den Hergang der Sache nach seiner Weise und erfuhr sodann von ihnen, daß man die beiden Leichen aufgehoben, von denen, welche arretiert werden sollten, aber gar nichts gesehen habe.
Eben wollte er sich wieder entfernen, als die Tür aufgestoßen wurde. Es trat ein Mann ein, welcher in schwarzen Frack, Zylinder und graue Gamaschen gekleidet war und unter dem Arm ein Instrument trug, welches die Gestalt und das Äußere eines riesigen Regenschirmes hatte.
„Good day!“ grüßte er. „Hat hier Vater Main gewohnt?“
„Ja“, antwortete einer der Polizisten. „Was wollen Sie?“
„Das Haus ansehen.“
„Das ist jetzt nicht gestattet. Wer sind Sie?“
„Ich bin Master Nathanael Robinson, Reporter of the ‚Lloyds Weekly London Newspaper‘.“
„Ah, ein Reporter. Sie wollen wohl einen Bericht des hier Gesehenen nach London senden?“
„Yes.“
„Gehen Sie nach dem Stadthaus! Dort erfahren Sie das Nähere, und dort werden Sie auch die schriftliche Erlaubnis erhalten, sich dieses verrufene Haus anzusehen.“
„Well! Habe ich schon.“
„Wo?“
„Hier!“
Er langte in die Tasche und zog ein Papier hervor, welches er dem Polizisten zu lesen gab.
„Es ist in Ordnung“, sagte dieser. „Sie können sich hier bewegen, wie es Ihnen beliebt.“
„Beliebt? Schön! Werde mich setzen und fragen.“
Er machte Miene, sich auf eine der Bänke niederzulassen, zog aber, als er den Schmutz derselben bemerkte, ein erschrockenes Gesicht und rief:
„Heigh-ho, welch ein Dreck! Werde mich nicht darauf setzen.“
Er nahm den Regenschirm unter dem Arm hervor. Martin hatte den sonderbaren Mann mit erstauntem Blick gemustert. Jetzt, als derselbe gar die Absicht zu haben schien, im Zimmer seinen Regenschirm aufzuspannen, fragte er ihn:
„Was ist das für ein Ding?“
„Das ist mein Umbrella-, music- and smoking-chair“, antwortete der Engländer, indem er das komplizierte Ding aufspannte und sich dann auf dem Sitze niederließ. Sofort ließ sich die englische Nationalhymne hören. Master Robinson aber zog sein Notizbuch und den Bleistift hervor, wendete sein Gesicht dem Polizisten zu und sagte das eine Wort:
„Erzählen!“
Der Angeredete schüttelte lächelnd den Kopf und antwortete:
„Sie wünschen zu wissen, was gestern hier geschehen ist?“
„Yes.“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“
„Warum?“
„Weil ich nicht dabei gewesen bin. Dieser Monsieur aber hat die Dame gerettet. Er ist imstande, Ihnen alles mitzuteilen.“
Da zog der Engländer seinen Feldstecher aus dem Futteral, hielt ihn an die Augen und betrachtete sich Martin mit der Sorgfalt eines Fleischbeschauers, welcher nach Trichinen sucht.
„Dieser Mann hier?“ fragte er. „Ah. Wunderbar!“
Er nahm das Fernglas von den Augen fort, schüttelte den Kopf und fragte dann Martin:
„Wer seid Ihr, Master?“
Es juckte den Telegraphisten in allen Gliedern. Er kam ganz auf denselben Gedanken, auf welchem auch sein Herr gekommen war.
„Reporter“, antwortete er.
„Reporter? Ah! Für welche Zeitung?“
„Für eine brasilianische.“
„Donnerwetter! Ihr sucht in Paris nach Neuigkeiten?“
„Natürlich!“
„Und Ihr wollt es sein, welcher die Dame gerettet hat?“
„Ja.“
„Das ist nicht wahr, Master.“
„Oho! Wollen Sie mich beleidigen?“
„Ja. Wer mich belügt, dem sage ich meine Meinung. Wollt Ihr Euch etwa mit mir boxen? Ich stehe zur Verfügung!“
Er erhob sich in kampfbereite Stellung und hatte in der Zeit von zwei Augenblicken den Frack ausgezogen.
„Danke“, lachte Martin. „Sie sind nicht der Mann, dem ich den Hals brechen möchte. Sagen Sie lieber, warum Sie mich für einen Lügner halten?“
„Ich habe den Retter bereits gesehen und mit ihm gesprochen.“
„Wo?“
„Beim General Latreau.“
„Heute?“
„Ja, am Vormittage.“
„Das stimmt. Sie meinen doch den Weinagenten Belmonte?“
„Nein. Ich meine den türkischen Reporter.“
Da ging dem guten Martin ein Licht auf. Er ahnte, daß er den gleichen Gedanken mit seinem Herrn gehabt habe und antwortete:
„Richtig. Jetzt weiß ich, daß Sie an der rechten Quelle gewesen sind. Und dennoch habe ich Ihnen keine Lüge gesagt. Ich und der Türke, wir beide haben die Dame gerettet.“
„Ihr und der Türke? Donnerwetter. Ist's wahr?“