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„Ja.“

„Dachte es mir! Habe hier bei Euch nur auf den Strauch geschlagen. Der Kerl wollte nicht mit der Sprache heraus; ich bin aber klug genug, das Richtige zu finden. Also, erzählt, Master Brasilianer.“

„Das ist sehr leicht erzählt. Wir hörten, daß die Dame geraubt worden sei, wir wußten, daß sie sich in diesem Haus befand, und wir holten sie, um sie zu ihrem Vater zu bringen.“

Der Engländer sperrte den Mund erstaunt auf und fragte:

„Das ist alles?“

„Ja, alles.“

„Kein Abenteuer dabei?“

„Nein.“

„Kein Mord und Totschlag, kein Kampf?“

„Genug.“

„So erzählet!“

„Habe keine Zeit. Adieu, Master Nathanael Robinson.“

Damit war Martin zur Tür hinaus. Der Engländer starrte diese an und sagte ärgerlich:

„Verdammte Kerle! Keiner sagt ein Wort. Aber ich werde doch noch alles erfahren, alles.“

Er klappte seinen ‚Schirm-, Musik- und Rauchstuhl‘ zusammen und stieg nun die Treppen auf und ab, um sich das Innere des Hauses anzusehen; dann entfernte er sich, nachdem er noch gehört hatte, daß der eigentliche Täter, nämlich der Wirt, noch nicht ergriffen worden sei. – – –

Die Polizei hatte sich die äußerste Mühe gegeben, Vater Mains habhaft zu werden. An allen Bahnhöfen und Stadtausgängen waren Posten aufgestellt; in allen obskuren Wirtschaften und Winkeln wurde gesucht, doch vergeblich. Man hätte nicht in den Höhlen der Armut suchen sollen.

Auf der Rue de Macaire nämlich stand ein hohes, palastähnliches Gebäude, dessen Besitzer Lemartel hieß, aber allgemein unter dem Namen Roi des chiffonniers, der Lumpenkönig, bekannt war. Man erzählte sich von ihm, daß er als Knabe Lumpensammler gewesen sei und es durch Fleiß und Sparsamkeit sowie später durch eine reiche Heirat, zum Besitz von Millionen gebracht habe. Er besaß mehrere große Papierfabriken und hatte in seinem Dienst viele Hunderte von armen Teufeln, welche Tag und Nacht Paris durchwanderten, um nach Lumpen und anderen Abfällen zu suchen.

Hinter dem herrlichen Garten seines Palastes zog sich eine enge, schmutzige Gasse hin. In derselben lagen einige Häuser, welche ihm gehörten und ihm als Lagerräume für die angesammelten Abfälle verschiedener Art dienten.

Seine Lumpensammler kannten ihn persönlich; sonst aber gab es wenige Menschen, welche sich rühmen konnten, mit ihm in nähere Beziehung gekommen zu sein. Zwar fuhr er fast täglich in einer glänzenden Equipage spazieren; aber er hatte sich stets so weit in die Polster zurückgelehnt, daß man sein Gesicht nur schwer zu erkennen vermochte. Dann saß allemal eine junge Dame von außerordentlicher Schönheit an seiner Seite, von welcher man sagte, daß sie seine leibliche Tochter sei. Ihre Mutter, seine Frau, sei gestorben.

In der letztvergangenen Nacht hatte in dem engen Lumpengäßchen, wie alle Nächte, ein reges Leben geherrscht. Der Lumpensammler von Paris arbeitet am liebsten während der Nacht, beim Schein seiner kleinen Laterne. Er ist da keinem Passanten im Weg; die Straßenkehrer haben, sobald die Hauptstadt sich zur Ruhe gelegt hat, ihr Werk begonnen, infolgedessen liegen in gewissen Entfernungen Kehrichthaufen, die nun von den Lumpensammlern mit Gier durchsucht werden.

Wer seinen Korb oder seine Bütte gefüllt hat, der eilt zur Niederlage, um den Vorrat abzugeben und die Arbeit von neuem zu beginnen. Daher kommt es, daß in den abgelegenen Gäßchen, in denen die Lumpensammler zusammentreffen, ein mehr als gewöhnlicher Verkehr herrscht, während in anderen Stadtteilen das Wogen des Tages aufgehört hat.

In einem der angegebenen Häuser saß im hintersten Winkel eines niedrigen und feuchten, gewölbeartigen Raumes, welcher ganz von allerlei Abfällen gefüllt war, an einem alten Pult ein Mann, dessen Gesicht von zahlreichen Blatternarben bedeckt war. Er hatte ein großes aufgeschlagenes Buch vor sich liegen, in welches er lange Zahlenreihen eintrug.

Durch die geöffnete Tür kamen und gingen Leute, welche ihre gefüllten Körbe ausschütteten und sich dann entfernten, ohne von diesem Mann beachtet zu werden oder ein Wort an ihn zu richten. Was sie zu reden hatten, das hatten sie bereits mit einem Beamten besprochen, welcher sich im Vorderraum aufhielt.

Da trat ein Mann ein, welcher weder Korb, noch Bütte auf dem Rücken trug. Er schritt langsam auf den Schreibenden zu und blieb dann in der Nähe desselben stehen, um zu warten, bis er angeredet werde. Er blieb längere Zeit unbemerkt, bis endlich der am Pult Sitzende ein Blatt umzuschlagen hatte und sein Blick dabei auf den Wartenden fiel. Seine Gedanken waren so von Zahlen erfüllt, daß er zwar die Gestalt bemerkte, aber die Züge des Gesichtes nicht unterschied, obgleich der Schein der Lampe auf den Angekommenen fiel.

„Was gibt es?“ fragte er kurz und mürrisch.

„Monsieur Lemartel!“ antwortete der Gefragte.

„Nun ja, Monsieur Lemartel bin ich. Also, was gibt es?“

„Wollen Sie mich wirklich nicht kennen?“

Da richtete der Lumpenkönig seinen Blick auf den andern. Seine Stirn zog sich in Falten.

„Donnerwetter!“ sagte er. „Lermille! Sie? Wie kommen Sie nach Paris?“

„Aus alter Anhänglichkeit, Monsieur.“

„Doch nicht etwa Anhänglichkeit gegen mich.“

„Gewiß.“

„Ich danke. Ich denke, Sie sind bei der Truppe des Zauberers Hassan angestellt.“

„Ich war es, meine Stieftochter starb, und da gefiel es mir nicht länger.“

„Sie ist tot? Schade ist es nicht um sie. Sie war ein höchst liederliches Subjekt. Was aber wollen Sie nun in Paris?“

„Ich befinde mich bloß auf der Durchreise. Ich muß Ihnen sagen, daß mir leider die Mittel zur Weiterreise fehlen, und da dachte ich an unsere frühere Bekanntschaft.“

Der Lumpenkönig räusperte sich:

„Sie war, wie ich mich erinnere, sehr vorübergehend.“

„Aber doch so intim, daß wir uns du nannten, obgleich Sie mich jetzt mit dem ehrenvollen Sie beehren.“

„Schon gut. Sie haben die verdammt üble Angewohnheit, sich stets dann, wenn Sie sich in Geldverlegenheit befinden, meiner zu erinnern. Sie können denken, daß mir das nicht sehr angenehm sein kann. Wenn Sie wünschen, daß ich Ihr Bankier sein möge, so ersuche ich Sie vor allen Dingen, eine Summe bei mir zu deponieren, über die Sie sodann verfügen können.“

„Das habe ich ja getan!“ meinte der Bajazzo spitz.

Der Lumpenmann warf einen erstaunten Blick auf ihn und fragte:

„Wie? Wann denn, und welche Summe denn?“

„Ich habe die Erinnerung bei Ihnen deponiert, und Sie werden zugeben, daß dieselbe nicht ganz wertlos ist.“

„Ihr System ist das System des Raubes, der Bedrohung, der Nötigung. Ich habe keine Lust, länger von Ihren Verlegenheiten gelangweilt zu werden. Wieviel brauchen Sie?“

„Hm! So viel wie möglich!“

„Ja, das glaube ich Ihnen. Ich werde Ihnen zum letzten Mal aushelfen. Ich gebe Ihnen heute zweihundert Franken, und zwar mit der Bedingung, daß Sie nicht wiederkommen.“

Der Bajazzo stieß ein kurzes Lachen aus und sagte dann:

„Zweihundert Franken? Welch eine Lappalie! Geben Sie zweitausend, so verspreche ich Ihnen, daß Sie mich nicht wiedersehen werden.

Der Lumpenkönig drehte sich weiter zu ihm herum, warf ihm einen stechenden Blick zu und antwortete:

„Zweihundert, nicht mehr.“

„Monsieur Lemartel!“

„Schon gut. Es ist das mein letztes Wort.“

„Monsieur – Lormelle!“

Der Bajazzo sprach diesen Namen langsam und mit Nachdruck aus. Der Mann am Pult fuhr erschrocken zusammen.

„Was ist das für ein Name?“ fragte er. „Wie kommen Sie dazu, mir denselben zu geben?“

„Weil Sie ihn einst getragen haben. Sie hießen damals Henry de Lormelle. Ich entsinne mich dessen sehr genau.“

„Unsinn. Was fällt Ihnen ein! Sie phantasieren!“

„Soll ich Ihnen einen Zeugen bringen?“