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„Bitte, zu bleiben, Monsieur. Warum wollen Sie sich entfernen, da Sie doch soeben gewünscht haben, daß der Täter ergriffen werde.“

„Ich verstehe Sie wahrhaftig nicht“, stotterte der Wirt.

„Wie? Sie verstehen mich nicht? Sie kennen mich wohl auch nicht, mein Lieber?“

„Nein, Monsieur.“

„Und doch sind wir so gut miteinander bekannt.“

„Ich kann mich wirklich nicht erinnern –“

„So muß ich Ihr Gedächtnis unterstützen.“

Er griff in die Tasche seines Rocks, zog die Haartour hervor und legte sie an. Der Wirt wich zurück. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen.

„Tausend Teufel! Der Changeur!“ rief er.

„Ja, der Changeur! Und hier noch einer!“ ertönte es da durch die sich öffnende Seitentür.

Der Wirt wendete sich um und machte eine abermalige Gebärde des heftigen Schreckens.

„Der Student! Verdammt! Der Teufel hole alle beide.“

Er holte zum Sprung aus, um Belmonte niederzurennen und dann zu entkommen, aber Martin, welcher ihm jetzt am nächsten stand, ergriff ihn von hinten und schleuderte ihn auf das Sofa zurück. Zugleich zog Belmonte den Revolver und drohte:

„Bleib ruhig sitzen, Kerl, sonst jage ich dir eine Kugel durch den Kopf.“

Die Brust des Wirtes arbeitete unter einem Entschluß, welchen er fassen wollte, aber er kam nicht dazu: er sah ein, daß Widerstand hier vergeblich sein würde.

„Ich bin verloren“, sagte er. „Hund von Changeur, so hatte ich also doch recht, du bist Polizeispion. Der Satan brate dich dafür in alle Ewigkeit.“

Er schien sich in sein Schicksal ergeben zu wollen: aber im nächsten Moment ermannte er sich wieder.

„Aber noch habe ihr mich nicht!“ rief er. „Macht Platz!“

Er schnellte sich auf die Tür zu, hatte sich aber in Belmonte verrechnet. Dieser packte ihn und schleuderte ihn zurück. Mit einem lauten Wutschrei warf er sich zwar nieder auf den Changeur, aber da wurde er auch schon von Martin gefaßt, und die beiden Männer rangen ihn zu Boden nieder.

„Mein Gott, mein Gott! Wer ist dieser Mensch?“ rief Alice.

„Es ist der Wirt, welche die Comtesse de Latreau geraubt hat“, antwortete Martin. „Hast du keine Stricke oder starke Schnüre da, ihn zu binden?“

„Gleich, gleich“, antwortete sie.

Sie wußte jetzt, wer jener war. Dieser Mensch durfte nicht entkommen. Sie eilte in die Nebenstube und kehrte schnell mit dem gewünschten Materiale zurück. Der Wirt wurde gefesselt.

„Jetzt zur nächsten Polizei, Martin“, gebot Belmonte, „damit der Kerl in Sicherheit kommt.“

Martin gehorchte dieser Aufforderung, und bald kamen mehrere Polizeisergeanten, um den Gefangenen in Empfang zu nehmen. Er wurde fortgeschafft.

Was hatte dieser Mensch von Alices Bruder gewollt? Keiner von den dreien wußte es zu sagen. Hatte er wirklich nur die Absicht gehabt, den Aufenthaltsort des Grafen Rallion zu erfahren? Stand er mit diesem letzteren in irgendeiner Beziehung?

Belmonte gab sich keine Mühe, darüber nachzudenken. Er beschloß aber, sich nach der Polizei zu begeben, um seine Aussage in die Feder zu diktieren. Er verabschiedete sich von Alice, welche er mit dem Geliebten allein ließ.

Als er unten aus der Tür trat, sah er gerade gegenüber einen Mann in sehr gedrückter Haltung unter dem Torweg hervor kommen und davon gehen.

„Ah, der Bajazzo!“ murmelte er. „Ist er mit dem Wirt zusammen gewesen? Hat er den Aufpasser gemacht? Ah, pah! Was geht es mich an? Der Bajazzo ist bei dem Raub nicht beteiligt gewesen; ich will ihn laufen lassen!“

Er ahnte jetzt nicht, daß er in ganz kurzem es sehr bereuen werde, den Bajazzo jetzt nicht festgehalten zu haben.

Droben hatte Martin der Geliebten vieles zu erklären. Sie zitterte bei dem Gedanken, daß sie sehr leicht mit diesem gefährlichen Menschen hätte allein sein können. Und doch war sie auch stolz darauf, daß er von ihrem Geliebten und sogar in ihrer eigenen Wohnung festgenommen worden war. Das alles aber war sofort vergessen, als sie dann hörte, daß Martin eigentlich gekommen sei, um Abschied von ihr zu nehmen. Sie fuhr bei dieser Eröffnung erschrocken zusammen, und in demselben Augenblick standen ihre Augen bereits voller Tränen.

„Mein Gott. Ist's möglich? Fort willst du?“ fragte sie, indem sie ihre Arme um ihn schlang.

„Ja, mein gutes, liebes Mädchen. Es ist so gekommen, wie ich es dir vorher gesagt habe: plötzlich, schnell und unerwartet. Noch gestern wußte ich gar nichts davon.“

„So soll ich dich von mir lassen, dich verlieren!“ klagte sie.

Er zog sie an sich, strich ihr liebkosend mit der Hand über das weiche Haar und antwortete in beruhigendem Ton:

„Von dir lassen, ja, aber verlieren doch nicht! Vielleicht komme ich bald, sehr bald zurück.“

„Wohin gehst du von hier?“

„Nach Metz. Darf ich dir schreiben, meine Seele?“

„Ja, ja. Schreibe alle Tage, mein lieber Martin!“

„Und du antwortest mir?“

„So oft und so viel ich kann! Oh, was für eine Sorge macht mir dein Scheiden. Vielleicht werde ich bald ganz einsam und allein hier wohnen!“

„Wieso? Du hast doch deinen Bruder hier.“

„Es ist möglich, daß er mich verlassen muß. Er sprach heute morgen davon, daß wir ganz gewiß bald Krieg haben werden. Dann muß er fort; du bist auch nicht da, und ich bin ganz allein.“

Sie weinte leise vor sich hin. Er wußte am besten, wie recht sie habe; er wollte sie trösten, und da kam ihm ein plötzlicher Gedanke, dem er sogleich in Worte Ausdruck gab:

„Du wirst nicht allein sein, liebe Alice. Ich kenne eine junge Dame, welche sich sehr gern deiner annehmen wird.“

„Eine junge Dame? Wer könnte das sein?“

„Komtesse Ella von Latreau.“

„Die Komtesse?“ fragte Alice, beinahe erschrocken. „Die Tochter eines Grafen und ich?“

„Was wäre daran zu verwundern? Ist sie nicht von deinem Bräutigam gerettet worden? Ist der Kerl, der sie geraubt hatte, nicht bei dir und in deiner Gegenwart ergriffen worden? Noch ist der Krieg nicht da; aber selbst, wenn er ausbricht, sollst du doch nicht verlassen sein!“ –

Als Martin nach einiger Zeit nach Hause kam, befand auch Belmonte sich bereits daheim. Dieser nickte ihm lächelnd zu und fragte:

„Zu Ende mit dem Abschied?“

„Gott sei Dank, ja! Das ist ein saures Stück Arbeit. Wer es nicht kennt, der glaubt es gar nicht.“

„Sapperlot! Ist das dein Ernst? Das klingt ja gerade, als ob du ein Familienvater seist, der von Frau und zehn Kindern Abschied genommen hat.“

„Es ist mir allerdings ganz und gar familienväterlich zumute. Ich habe für Alice zu sorgen. Auf ihren Bruder kann sie sich nicht verlassen. Der Krieg bricht aus: Die Deutschen belagern Paris. Donnerwetter, was soll da aus meiner Schwalbe werden.“

Belmonte nickte leise vor sich hin.

„Recht hast du“, sagte er. „Alice ist ein Prachtmädchen. Ich verdenke es dir nicht, daß du dein Herz bei ihr gelassen hast. Der Krieg wird hier in diesem Babylon gar manches und vieles verändern. Die Franzosen sind ein unruhiges, unzuverlässiges Volk. Siegen sie, dann wehe uns. Siegen wir, dann doppelt Wehe. Aufruhr und Empörung sind die sicheren Folgen. Kein braver Kerl hat aber die Braut gern mitten im Herd der Revolution. Hm. Ich habe eine Idee, Martin.“

„Die möchte ich erfahren.“

„Die Komtesse de Latreau geht von Paris fort.“

„Alle Wetter! Heute sterben zwei Schneidergesellen!“

„Wieso?“

„Weil wir zweimal ganz den gleichen Gedanken gehabt haben, zuerst mit dem famosen englischen Reporter und sodann mit der Komtesse.“