Margaret Weis
Tracy Hickman
Die Stadt der Göttin
1
Denubis ging langsamen Schrittes durch die weiten luftigen Korridore von Istars lichterfülltem Tempel der Götter. Sein Blick war geistesabwesend auf die verschlungenen Muster des Marmorbodens gerichtet. Wenn man ihn so ziellos und gedankenverloren herumgehen sah, hätte man vermuten können, daß sich der Kleriker der Tatsache nicht bewußt war, sich im Herzen des Universums zu befinden. Doch Denubis war sich dieser Tatsache wohl bewußt und vergaß sie wahrscheinlich auch nicht. Dafür sorgte schon der Königspriester, der ihn tagtäglich in seinem morgendlichen Aufruf zur Andacht daran erinnerte.
»Wir sind das Herz des Universums«, sagte der Königspriester mit einer so melodischen Stimme, daß man gelegentlich den Worten zuzuhören vergaß. »Istar, die von den Göttern geliebte Stadt, bildet den Mittelpunkt des Universums, und folglich sind wir – die im Herzen dieser Stadt leben – das Herz des Universums. So wie das Blut aus dem Herzen fließt und sogar den kleinen Zeh mit Nahrung versorgt, fließen unser Glaube und unsere Lehren aus diesem riesigen Tempel zu den Niedrigsten und Unbedeutendsten unter uns. Vergeßt das nicht, wenn ihr euren täglichen Pflichten nachgeht, denn ihr, die hier Tätigen, seid von den Göttern begünstigt. So wie jemand die winzigste Faser eines Spinngewebes berührt und dadurch das ganze Gewebe zum Zittern bringt, kann eure unbedeutendste Tat ein Zittern auslösen, das sich auf ganz Krynn auswirkt.«
Denubis erschauerte. Er wünschte, der Königspriester würde diese bestimmte Metapher nicht gebrauchen. Denubis verabscheute Spinnen. In der Tat haßte er alle Insekten, etwas, das er niemals zugab und dessen er sich gleichzeitig schuldig fühlte. Wurde von ihm nicht gefordert, alle Kreaturen zu lieben, außer jenen natürlich, die von der Königin der Finsternis geschaffen worden waren? Dies schloß Menschenfresser, Goblins, Trolle und andere bösartige Wesen ein, aber Denubis war sich bei Spinnen nicht sicher. Schon immer wollte er deswegen fragen, aber er wußte, daß dies eine stundenlange philosophische Auseinandersetzung bei den Verehrten Söhnen nach sich ziehen würde, und er glaubte einfach nicht, daß es das wert war. Insgeheim würde er weiterhin Spinnen hassen.
Denubis schlug sich selbst sanft auf den kahlen Kopf. Wie waren seine Gedanken zu den Spinnen gewandert? Ich werde alt, dachte er seufzend. Bald wird es mir wie dem armen Arabakus ergehen, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als im Garten zu sitzen und zu schlafen, bis er zum Abendessen geweckt wird. Bei diesem Gedanken seufzte Denubis wieder, aber es war eher ein Seufzen des Neides als des Mitleids. Armer Arabakus, in der Tat! Zumindest blieb ihm erspart...
»Denubis...«
Denubis hielt inne. Er blickte sich im langen Korridor in beiden Richtungen um, sah aber niemanden. Der Kleriker schauderte. Hatte er diese sanfte Stimme wirklich gehört oder sich nur eingebildet?
»Denubis«, ertönte es wieder.
Jetzt sah der Kleriker gründlicher in den von den riesigen Marmorsäulen geworfenen Schatten, die die vergoldete Decke trugen. Ein schwarzer Fleck war in der Dunkelheit erkennbar. Denubis verkniff sich einen wütenden Ausruf. Einen zweiten Schauder unterdrückend, der durch seinen Körper jagte, änderte er seine Richtung und ging langsam auf die Gestalt zu, die im Dunklen stand, da er wußte, daß sie niemals aus dem Schatten hervorkommen würde. Es war nicht so, daß dieser Person, die auf Denubis wartete, das Licht Schaden zufügen würde, so wie es bei einigen Kreaturen der Finsternis der Fall war. Tatsächlich fragte sich Denubis, ob diesem Mann überhaupt etwas auf dem Antlitz der Welt Schaden zufügen könnte. Nein, er bevorzugte einfach den Schatten. Übertriebenes Gehabe, dachte Denubis sarkastisch.
»Du hast mich gerufen, Schwarzer?« fragte Denubis und bemühte sich, mit freundlicher Stimme zu sprechen. Er sah das Gesicht im Schatten lächeln und wußte sofort, daß dem Mann all seine Gedanken bekannt waren.
»Verdammt!« fluchte Denubis – eine Angewohnheit, die vom Königspriester mißbilligt wurde, die sich Denubis, ein einfacher Mann, aber niemals abgewöhnen konnte. »Warum läßt der Königspriester zu, daß er sich am Hof aufhält? Warum wird er nicht wie die anderen verbannt?« Natürlich sagte er das nicht laut, denn tief in seiner Seele kannte er die Antwort.
Dieser Mann war zu gefährlich, zu mächtig. Er war nicht wie die anderen. Der Königspriester behandelte ihn so wie jemand, der einen wilden Hund zum Schutz seines Hauses hielt und wußte, daß der Hund auf Befehl angreifen würde; aber er mußte ständig auf die Hundeleine achten. Wenn die Leine jemals reißen sollte, würde sich das Tier auf die Kehle seines Besitzers stürzen.
»Es tut mir leid, dich zu stören, Denubis«, sagte der Mann mit seiner sanften Stimme, »insbesondere, wenn ich dich in so gewichtige Gedanken vertieft sehe. Aber ein Ereignis von größter Bedeutung findet gerade jetzt statt, während wir uns unterhalten. Geh mit einer Gruppe von Tempelwachen zum Marktplatz. Dort an der Kreuzung wirst du eine Verehrte Tochter Paladins finden. Sie ist dem Tode nahe. Und dort ist auch der Mann, der sie angegriffen hat.«
Denubis riß die Augen auf, dann verengten sie sich in plötzlichem Argwohn. »Woher weißt du das?« herrschte er den anderen an.
Die Gestalt im Schatten rührte sich, die dunkle Linie, die die dünnen Lippen bildeten, öffnete sich zur Andeutung eines Lachens. »Denubis«, tadelte die Gestalt, »du kennst mich jetzt schon seit vielen Jahren. Fragst du den Wind, warum er weht? Befragst du die Sterne, um herauszufinden, warum sie leuchten? Ich weiß es, Denubis. Begnüge dich damit.«
»Aber...« Denubis legte verwirrt die Hand an den Kopf. Ein entsprechendes Handeln würde Erklärungen nach sich ziehen, Berichte an die zuständigen Autoritäten. Man befahl nicht einfach einer Gruppe von Tempelwachen!
»Beeil dich, Denubis«, drängte der Mann sanft. »Sie wird nicht mehr lange leben...«
Denubis schluckte. Eine Verehrte Tochter Paladins, angegriffen! Sterbend – auf dem Marktplatz! Wahrscheinlich von einer gaffenden Menge umgeben. Ein Skandal! Der Königspriester würde höchst erzürnt sein...
Der Kleriker öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder. Er sah kurz zu der Gestalt im Schatten, aber als er von ihr keine Hilfe bekam, drehte er sich um, und mit flatternden Roben stürmte er in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Seine Ledersandalen klapperten auf dem Marmorboden.
Als er das Hauptquartier des Hauptmanns der Wache erreicht hatte, schaffte er es gerade, seine Bitte dem diensthabenden Leutnant vorzukeuchen. Wie vorausgesehen, löste das Unruhe aus. Denubis, der auf den Hauptmann warten mußte, brach auf einem Stuhl zusammen und versuchte, wieder Atem zu schöpfen.
Die Identität des Erschaffers von Spinnen stand wohl offen zur Debatte, dachte Denubis verdrießlich, aber für ihn bestand kein Zweifel an dem Erschaffer jener Kreatur der Finsternis, die sicherlich noch im Schatten stand und ihn auslachte.
»Tolpan!«
Der Kender öffnete die Augen. Einen Augenblick hatte er keine Vorstellung, wo und wer er überhaupt war. Eine Stimme hatte einen Namen gerufen, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Verwirrt sah sich der Kender um. Er befand sich auf einem großen Mann, der flach auf dem Rücken mitten auf einer Straße lag. Der große Mann betrachtete ihn mit äußerstem Erstaunen, vielleicht weil Tolpan auf seinem dicken Bauch hockte.
»Tolpan?« wiederholte der große Mann, und dieses Mal nahm sein Gesicht einen verwirrten Ausdruck an. »Solltest du etwa hier sein?«
»Ich... ich bin mir nicht ganz sicher«, antwortete der Kender, der sich fragte, wer »Tolpan« sein mochte. Dann fiel ihm wieder alles ein – er hörte Par-Salians Singsang, er riß sich den Ring vom Daumen, das blendende Licht, die singenden Steine, das entsetzte Kreischen des Magiers...
»Natürlich soll ich hier sein«, brauste Tolpan auf, während er gleichzeitig Par-Salians entsetzten Aufschrei aus seinem Gedächtnis verbannte. »Du hast doch wohl nicht gedacht, daß sie dich allein in die Vergangenheit zurückschicken, oder?« Der Kender befand sich praktisch Nase an Nase mit dem großen Mann.