Er saß so lange in sorgenvollem Schweigen da, daß der junge Meßdiener sich dreimal räusperte, um an seine Anwesenheit zu erinnern.
»Ihr habt noch eine weitere Aufgabe für mich, Verehrter Sohn?«
Quarat nickte langsam. »Ja, und diese Neuigkeit macht sie noch wichtiger. Ich wünsche, daß du dich persönlich darum kümmerst. Ich muß mit dem Zwerg sprechen.«
Der Meßdiener verbeugte sich und verließ das Zimmer. Es bestand keine Notwendigkeit zu fragen, wen Quarat meinte – in Istar gab es nur einen Zwerg!
Doch niemand wußte so genau, wer Arak Steinbrecher eigentlich war oder woher er kam. Er machte über seine Vergangenheit niemals eine Bemerkung und knurrte im allgemeinen so bösartig, wenn dieses Thema aufkam, daß es unverzüglich fallengelassen wurde. Es gab mehrere interessante Vermutungen über ihn. Die beliebteste war, daß er ein Ausgestoßener aus Thorbadin sei, der uralten Heimat der Bergzwerge, wo er ein Verbrechen verübt habe, das zu seinem Exil führte. Aber welches Verbrechen er verübt haben könnte, das wußte keiner. Andere Gerüchte behaupteten, daß er in Wirklichkeit ein Dewar sei, einer der bösartigen Zwerge, die von ihren Verwandten fast ausgelöscht und regelrecht ins Erdinnere getrieben worden waren. Obgleich Arak eigentlich nicht wie ein Dewar aussah oder so handelte, wurde dieses Gerücht angesichts der Tatsache gern geglaubt, daß Araks einziger Begleiter ein Oger war. Nach anderen Gerüchten kam Arak überhaupt nicht aus Ansalon, sondern von irgendwo jenseits des Meeres.
Fest stand jedoch, daß er der am niederträchtigsten aussehende Vertreter seiner Rasse war, der jemals gesichtet wurde. Die ungleichmäßigen Narben, die sich senkrecht über sein Gesicht zogen, verliehen ihm einen ständigen finsteren Ausdruck. Er war nicht fett, er wog nicht ein Gramm zuviel. Er bewegte sich mit der Anmut einer Katze, und wenn er stand, dann setzte er seine Füße so fest, daß sie ein Teil des Bodens zu sein schienen.
Woher er auch kam – Arak lebte in Istar nun seit so vielen Jahren, daß seine Herkunft selten besprochen wurde. Er und der Oger, der Raag hieß, waren in den alten Zeiten wegen der Spiele gekommen, als diese noch wirkliche Spiele waren. Unverzüglich wurden sie große Lieblinge der Zuschauer. Einwohner Istars erzählten immer noch, wie Raag und Arak den mächtigen Minotaurus Darmork in drei Runden besiegt hatten. Es fing damit an, daß Darmork den Zwerg aus der Arena geschleudert hatte. Raag, in einem rasenden Wutanfall, hob, mehrere schreckliche Messerwunden ignorierend, den Minotaurus vom Boden und spießte ihn auf dem riesigen Freiheitsturm inmitten des Rings auf.
Arak erzählte seinen zwei neuen Sklaven die grauenhaften Einzelheiten dieses Kampfes. »Auf diese Weise habe ich dieses alte zersprungene Gesicht erhalten«, sagte er zu Caramon, als er den großen Mann und den Kender durch die Straßen Istars führte. »Und auf diese Weise haben Raag und ich uns einen Namen bei den Spielen gemacht.«
»Was für Spielen?« fragte Tolpan, der über seine Ketten stolperte und zum großen Vergnügen der Menge auf dem Marktplatz flach auf sein Gesicht fiel.
Arak blickte vor Verärgerung finster. »Nimm diese verdammten Dinger ab«, befahl er dem riesenhaften gelbhäutigen Oger, der als Wache tätig war. »Ich denke, du wirst nicht davonlaufen und deinen Freund allein zurücklassen, nicht wahr?« Er musterte Tolpan eingehend. »Nein, ich glaube es nicht. Man sagte mir, daß du eine Gelegenheit zum Weglaufen hattest und sie nicht genutzt hast. Denk einfach daran, daß du nicht an mir vorbeiläufst!« Araks üblicher finsterer Blick vertiefte sich. »Ich habe noch nie einen Kender gekauft, aber mir blieb nichts anderes übrig. Sie sagten, daß man euch nur zusammen kaufen kann. Vergiß nur nicht, daß – soweit es mich betrifft – du wertlos bist. Nun, welche dämliche Frage hast du gestellt?«
»Wie willst du uns die Ketten abnehmen? Brauchst du keinen Schlüssel? Oh...« Tolpan beobachtete mit Erstaunen, wie der Oger die Ketten ergriff und mit einem schnellen Ruck auseinanderriß.
»Hat du das gesehen, Caramon?« fragte Tolpan, als der Oger ihn hochhob und auf die Füße stellte. »Er ist wirklich stark! Ich habe noch nie einen Oger kennengelernt. Was habe ich gesagt? Oh, die Spiele. Was für Spiele?«
»Nun, die Spiele!« schnappte Arak aufgebracht.
Tolpan warf Caramon einen Blick zu, aber der große Mann zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Offensichtlich war es etwas, worüber jedermann Bescheid wußte. Zu viele Fragen würden verdächtig wirken. Tolpan stöberte in seinem Gedächtnis, versuchte sich jede Geschichte in Erinnerung zu rufen, die er jemals über die alten Zeiten vor der Umwälzung gehört hatte. Plötzlich hielt er den Atem an. »Die Spiele!« sagte er zu Caramon und vergaß dabei den Zwerg, der zuhörte. »Die großen Spiele von Istar! Erinnerst du dich nicht?«
Caramons Gesicht verzog sich grimmig.
»Du meinst, dahin gehen wir?« wandte sich Tolpan mit großen Augen an den Zwerg. »Wir werden Gladiatoren? Und kämpfen in der Arena, mit Zuschauern und allem? Caramon, denk doch! Die großen Spiele von Istar! Ich habe Geschichten gehört...«
»Ich auch«, sagte der große Mann langsam, »und du kannst es vergessen, Zwerg. Ich habe Menschen getötet, das gebe ich zu – aber nur, wenn es um mein Leben ging. Ich habe das Töten nie genossen. Ich sehe immer noch manchmal in der Nacht ihre Gesichter. Ich bringe niemanden zum Vergnügen um!«
Er sagte das so ernst, daß Raag dem Zwerg einen fragenden Blick zuwarf und leicht seine Keule hob; ein eifriger Ausdruck lag in seinem gelben, warzigen Gesicht. Aber Arak funkelte ihn wütend an und schüttelte den Kopf.
Tolpan musterte Caramon mit neuem Respekt. »Aus dieser Sicht habe ich das noch nie betrachtet«, sagte der Kender leise. »Ich denke, du hast recht, Caramon.« Er wandte sich wieder zum Zwerg: »Es tut mir wirklich leid, Arak, aber wir werden für dich nicht kämpfen können.«
Arak kicherte. »Du wirst kämpfen. Und warum? Weil das die einzige Möglichkeit ist, daß du dieses Band vom Hals bekommst, darum.«
Caramon schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht töten...«
Der Zwerg schnaufte verächtlich. »Wo habt ihr beide eigentlich gelebt? Am Grund des Sirrion-Meeres? Oder sind in Solace alle so dämlich wie ihr? Niemand kämpft mehr in der Arena, um zu töten.« Sein Blick verschleierte sich. »Diese Zeiten sind vorbei, auch wenn es eine Schande ist. Es ist alles vorgetäuscht.«
»Vorgetäuscht?« wiederholte Tolpan verblüfft. Caramon blickte den Zwerg finster an und sagte nichts; offensichtlich glaubte er kein einziges Wort.
»Vor zehn Jahren gab es in der alten Arena den letzten richtigen Kampf«, bekannte Arak. »Es fing alles mit den Elfen an.« Er spuckte auf den Boden. »Vor zehn Jahren überredeten die Elfenkleriker – zur Hölle mit ihnen! – den Königspriester, den Spielen ein Ende zu bereiten. Bezeichneten sie als ›barbarisch‹! Barbarisch, ha!« Der finstere Blick des Zwergen verzerrte sich, dann seufzte er wieder und schüttelte den Kopf. »Alle großen Gladiatoren sind gegangen«, sagte er sehnsüchtig. »Danark, der Hobgoblin – so einem bösartigen Kämpfer bist du noch nie über den Weg gelaufen. Und der alte einäugige Josef. Erinnerst du dich an ihn, Raag?« Der Oger nickte traurig. »Behauptete, ein Ritter aus Solamnia zu sein. Kämpfte immer in voller Rüstung. Sie sind alle gegangen, außer mir und Raag.« Tief in den kalten Augen des Zwerges erschien ein Glanz. »Wir wußten nicht, wohin wir gehen sollten, weißt du, und außerdem – ich hatte das Gefühl, daß es mit den Spielen nicht vorbei ist. Noch nicht.«
Arak und Raag blieben in Istar. Sie behielten ihre Quartiere in der verlassenen Arena bei und wurden dann inoffizielle Verwalter. Raag schleppte sich zwischen den Tribünen dahin, fegte die Gänge mit einem primitiven Besen oder saß einfach da und starrte stumpfsinnig in die Arena, wo Arak arbeitete – der Zwerg kümmerte sich liebevoll um die Maschinen in den Totengruben, ölte sie und hielt sie betriebsbereit. Die den Zwerg sahen, bemerkten manchmal ein seltsames Lächeln in seinem bärtigen Gesicht mit der gebrochenen Nase.