Schnell zog Tolpan es hervor. Er hielt den Atem an. Das magische Gerät von Par-Salian! Wie haben sie es nur übersehen können? fragte er sich, als er bewundernd den mit Juwelen besetzten Anhänger in seiner Hand betrachtete. Zweifellos verfügte es über die Kraft, nicht entdeckt zu werden, wenn es nicht entdeckt werden wollte.
Tolpan seufzte vor Zufriedenheit, als er es hielt und das Sonnenlicht auf den Juwelen funkeln sah. Das war der schönste, phantastischste Gegenstand, den er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Er wollte ihn behalten. Ohne zu denken, erhob sich sein kleiner Körper und steuerte auf seine Beutel zu.
»Tolpan Barfuß«, sagte eine Stimme, die unbehaglicherweise wie die Flints klang, »dies ist eine ernste Angelegenheit, in die du dich einmischest. Dies ist der Weg zurück. Par-Salian selbst, der große Par-Salian, überreichte es Caramon in einer Zeremonie. Es gehört Caramon. Es ist sein, du hast keinen Anspruch darauf!«
Tolpan erbebte. Mit Sicherheit hatte er in seinem ganzen Leben noch nie solche Gedanken gehegt. Zweifelnd betrachtete er das Gerät. Vielleicht legte es diese ungemütlichen Gedanken in seinen Kopf! Eilig trug er das Gerät zurück und legte es in Caramons Kommode. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme verschloß er die Kommode und stopfte den Schlüssel in Caramons Kleidung. Sich noch elender fühlend, legte er sich wieder auf sein Bett.
Das Sonnenlicht war gerade verschwunden, und der Kender wurde immer nervöser, als er von draußen ein Geräusch hörte. Die Tür wurde heftig aufgestoßen.
»Caramon!« schrie Tolpan entsetzt und sprang auf.
Die zwei stämmigen Menschen schleiften den großen Mann über die Türschwelle und warfen ihn auf das Bett. Dann zogen sie grinsend ab und schlugen die Tür hinter sich zu. Von dem Bett kam ein leises Stöhnen.
»Caramon!« murmelte Tolpan. Eilig ergriff er den Wasserkrug, schüttete Wasser in die Schüssel und trug sie zum Bett des großen Kriegers. »Was haben sie getan?« fragte er leise und befeuchtete die Lippen des Mannes mit Wasser.
Caramon stöhnte wieder und schüttelte schwach den Kopf. Tolpan warf schnell einen Blick auf den Körper des großen Mannes. Er wies keine sichtbaren Verletzungen auf, kein Blut, keine Schwellung, keine Striemen oder Anzeichen von Peitschenhieben. Dennoch war er gefoltert worden, das war offensichtlich. Der große Mann litt unerträgliche Schmerzen. Sein Körper war mit Schweiß bedeckt. Ständig zuckten verschiedene Muskeln, und ein schmerzhaftes Stöhnen entfuhr seinen Lippen.
»War... war es die Streckfolter?« fragte Tolpan. »Das Rad vielleicht? Daumenschrauben?« Keines dieser Folterwerkzeuge hinterließ Spuren am Körper, zumindest hatte er das gehört.
Caramon murmelte ein Wort.
»Was?« Tolpan beugte sich zu ihm, befeuchtete sein Gesicht mit Wasser. »Was hast du gesagt? Gym... gym... und was? Ich habe es nicht verstanden.« Seine Augenbrauen furchten sich. »Ich habe niemals von einer Folter gehört, die Gym... heißt«, murmelte er. »Ich frage mich, was das sein könnte.«
Caramon wiederholte es, stöhnte wieder.
»Gym... gym... gymnastik!« rief Tolpan triumphierend. Dann ließ er den Wasserkrug auf den Boden fallen. »Gymnastik? Das ist aber keine Folter!«
Caramon stöhnte wieder.
»Das sind Turnübungen!« kreischte Tolpan. »Meinst du etwa, daß ich hier warte, vor Sorgen krank bin, mir alle möglichen entsetzlichen Dinge ausmale, und du treibst nur Gymnastik?«
Caramon hatte gerade noch die Kraft, sich aufzurichten. Er streckte seine große Hand aus, ergriff Tolpan am Kragen seines Hemdes und zog ihn zu sich. »Ich wurde einmal von Goblins gefangengenommen«, sagte er in heiserem Flüsterton, »und sie fesselten mich an einen Baum und verbrachten die ganze Nacht damit, mich zu foltern. Ich wurde von Drakoniern in Xak Tsaroth verletzt. Kleine Drachen kauten an meinem Bein in den Verliesen der Königin der Finsternis. Und ich schwöre dir, daß ich jetzt mehr Schmerzen habe, als ich je in meinem ganzen Leben durchgemacht habe! Laß mich allein, laß mich in Ruhe sterben.« Mit einem Stöhnen fiel Caramons Hand zur Seite. Er schloß die Augen.
Ein Grinsen unterdrückend, kroch Tolpan zurück zu seinem Bett. »Er glaubt, daß er jetzt Schmerzen hat«, sinnierte er. »Warte nur bis zum Morgen!«
Der Sommer in Istar endete. Der Herbst kam, einer der schönsten, an den sich jeder erinnerte. Caramons Ausbildung begann, und der Krieger starb nicht, obgleich es Zeiten gab, in denen er dachte, daß der Tod einfacher wäre. Auch Tolpan war mehr als einmal versucht, das große verwöhnte Kind aus seinem Elend zu befördern. Eine Gelegenheit ergab sich eines Nachts, als er von einem herzzerreißenden Schluchzen geweckt wurde.
»Caramon?« fragte Tolpan verschlafen und richtete sich in seinem Bett auf.
Keine Antwort, nur ein weiteres Schluchzen.
»Was ist los?« fragte Tolpan besorgt. Er verließ sein Bett und tappte über den kalten Steinboden. »Hast du geträumt?« Er konnte Caramon im Mondschein nicken sehen. »Hast du von Tika geträumt?« fragte er und fühlte Tränen in seine Augen steigen angesichts der Trauer des Mannes.
»Ein Muffin!« schluchzte Caramon.
»Was?« fragte Tolpan verblüfft.
»Ein Muffin!« blubberte Caramon. »O Tolpan! Ich bin so hungrig. Und ich habe von einem Muffin geträumt, so wie Tika sie immer gebacken hat, ganz mit klebrigem Honig bedeckt und mit diesen kleinen gemahlenen Nüssen...«
Tolpan hob einen Schuh auf, schleuderte ihn auf Caramon und ging voller Abscheu in sein Bett zurück.
Aber am Ende des zweiten Monats ihrer strengen Ausbildung musterte Tolpan Caramon, und der Kender mußte sich eingestehen, daß es genau das war, was der große Mann auch nötig hatte. Die Fettrollen um die Taille des großen Mannes waren verschwunden, die schwabbeligen Oberschenkel waren wieder hart und muskulös, in seinen Armen und an Brust und Rücken spielten Muskeln. Seine Augen waren hell und wachsam, ohne den abgestumpften leeren Blick. Der Zwergenspiritus war aus seinem Körper ausgeschwitzt, die Nase war nicht mehr rot. Sein Körper war von der Sonne gebräunt. Der Zwerg hatte entschieden, daß Caramon sein braunes Haar lang wachsen lassen sollte, wie es in Istar zur Zeit Mode war, und jetzt lockte es sich um sein Gesicht und über seinen Rücken.
Auch war er nun ein geübter Kämpfer. Arak importierte Ausbilder aus der ganzen Welt, und jetzt lernte Caramon Techniken von den Besten. Seine natürliche Begabung ließ ihn schnell lernen, und es dauerte nicht lange, bis der große Mann Kiiri mühelos hochwarf und dann Pheragas eiskalt in sein eigenes Netz einwickelte und ihn mit dem eigenen Dreizack am Boden festheftete.
Caramon war glücklich, wie er es schon lange Zeit nicht mehr gewesen war. Er verabscheute immer noch das Eisenband, und es verging kaum ein Tag, an dem er sich nicht danach sehnte, es zu zerreißen und wegzulaufen. Aber diese Gefühle ließen nach, je mehr er sich für seine Ausbildung interessierte. Er hatte immer das Soldatenleben genossen. Es gefiel ihm, wenn ihm jemand sagte, was und wann er etwas tun sollte.
Immer offen und ehrlich, setzte der schwierigste Teil seiner Ausbildung ein, als er zum Schein verlieren sollte. Er sollte in vorgeblichem Schmerz aufschreien. Er mußte lernen zusammenzubrechen, als wäre er schwer verwundet, wenn sein Gegner sich mit dem einklappbaren Schwert auf ihn stürzte.
»Nein! Nein! Nein, du Blödmann!« schrie Arak immer wieder. Caramon verfluchend, ging der Zwerg eines Tages zu ihm hin und schlug ihn hart ins Gesicht.
Caramon schrie in echtem Schmerz auf, wagte aber nicht zurückzuschlagen, da Raag ihn schadenfroh beobachtete.
»Nun...«, sagte Arak und trat triumphierend zurück; seine Fäuste waren geballt, an den Knöcheln klebte Blut. »Erinnere dich an diesen Schrei. Die Zuschauer lieben das.«
Aber im Schauspielen war Caramon hoffnungslos. Und dann kam dem Zwerg eines Tages eine Idee.